Das hübsche harte Leben

ER MOMENT, AN dem die Künstlerin in Geneviève Castrée ihren Ursprung hat, lässt sich wohl ziemlich klar benennen. Sie ist vier Jahre alt und sitzt mit einem stämmigen, bärtigen Mann -offensichtlich ihrem Vater -an einem Tisch. Beide sind stumm, denn sie sprechen nicht dieselbe Sprache. Sie wächst nämlich im französischsprachigen Quebec bei ihrer überforderten, alkoholkranken Mutter und ihrem ziemlich gemeinen Stiefvater auf, der ebenfalls eine Tochter hat; er lebt in den Wäldern von Vancouver Island und kann nur Englisch. Die beiden verständigen sich, indem sie Bilder malen.

Es hat bis zu ihrem 30. Geburtstag gedauert, bis Castrée, die seit ihrem 19. Lebensjahr Comics in französischer Sprache veröffentlicht, ihre zerrüttete und sprachver w irr te Familiengeschichte künstlerisch verarbeiten konnte. „Susceptible“ heißt ihre erste, nun in deutscher Fassung als „Ausgeliefert“ erscheinende Graphic Novel, in der sie prägende Momente ihrer Kindheit und Jugend wie die Perlen einer Kette aneinanderreiht (die anfangs geschilderte Urszene ihrer künstlerischen Existenz lässt sie dabei bewusst aus).

„Wenn man einen Film über eine fiktive Person dreht, versucht man die Lücken zwischen den einzelnen Erinnerungsbildern auszufüllen“, erklärt Castrée. „Aber im wahren Leben erinnert man sich halt tatsächlich an einzelne Momente, die sich nicht ohne Weiteres zusammenfügen lassen.“ Bisher habe sie in ihren Comics vor allem fantastische Geschichten erzählt, doch bei „Ausgeliefert“ habe die Herausforderung darin bestanden, möglichst nah an der Realität zu bleiben. So habe sie auch gar nicht erst versucht, die losen Enden ihrer Erzählung am Ende zusammenzubinden. „Es gibt am Ende keine magische Lösung für alle Probleme. Das Leben ist schließlich kein Blockbuster-Film – es ist schwierig, und das ist gut so.“

Die einzelnen Kapitel von „Ausgeliefert“ lesen sich wie Tagebucheinträge -zumal Castrée sie (auch für die deutsche Übersetzung) in ihrer kleinen, runden Mädchenschrift gelettert hat. Doch in der Zusammenschau ergeben die Szenen eine intensive Coming-of-Age-Geschichte und das einfühlsame Panoptikum eines Familienlebens. „Die Wirklichkeit abzubilden heißt auch, Menschen nicht schwarz und weiß darzustellen, sondern als komplexe Wesen“, erklärt Castrée. „Die Leute sollten mich nicht bemitleiden, während sie dieses Buch lesen, sie sollten sich auch in die anderen Charaktere einfühlen können. Ich wollte zeigen, dass es für niemanden von uns einfach war. Der Titel der Originalausgabe,,Susceptible‘ (etwa: dünnhäutig, empfindlich), bezieht sich auf alle hier handelnden Personen.“

Auch wenn ihre in Grautönen gehaltenen Zeichnungen, die mandeläugigen Figuren und die in entscheidenden Momenten ausgeblendeten Hintergründe eher cartoonhaft erscheinen, legt Castrée bei der grafischen Ausgestaltung ihrer Geschichte ebenfalls viel Wert auf eine realistische Darstellung. „Das ist das erste Mal, dass ich mich in einem Buch auf etwas beziehe, das wirklich passiert ist und auf realen Bildern beruht“, sagt sie. „Wenn man immer nur Fantasy-Stories erzählt, wird man mit der Zeit faul. Man malt halt einfach Sachen, die einem gerade einfallen, weil es keine Entsprechung in der Wirklichkeit geben muss. Doch wenn man realistisch arbeitet, muss man recherchieren. Das war eine neue und sehr gute Erfahrung, weil ich dadurch besser geworden bin in dem, was ich tue.“

Aus der korrekten Darstellung der Kleidung ihrer Protagonisten, der Autos, die sie fuhren, und der Räume, in denen ihre Geschichte spielt, habe sie die künstlerische Legitimation für ein solch persönliches Projekt gezogen, sagt Castrée. „In gewisser Weise ist ,Ausgeliefert‘ eine Nachricht an mich selbst: ,Ich erinnere mich an die Dinge und ich erinnere mich richtig.‘ Das mag seltsam klingen, aber ich denke aus irgendeinem Grund, wenn ich alle Äußerlichkeiten detailgenau hinbekomme, muss auch der Rest meiner Erinnerung wahr sein.“

Castrée erzählt ihre Geschichten nicht nur in Comicform, sondern setzt sie auch zu Musik. Als sie 2004 die Idee hatte, einem ihrer Bücher eine LP beizulegen, brachte sie sich das Songschreiben selbst bei. -„Ich dachte: Wenn jemand den Soundtrack zu meinen Bildern komponieren kann, dann ich selbst.“ Heute geht sie mit ihrem Folk-Projekt Ô PAON auf Tour und verdient so einen Großteil ihres Lebensunterhalts. „Dass ich mit Comics Geld verdienen kann, habe ich erst beim Blick auf meinen letzten Kontoauszug gemerkt“, sagt sie. „So allmählich rentiert sich meine Zeichnerei.“ Den Realismus von „Ausgeliefert“ will sie nun weiterverfolgen. Sie habe schon jede Menge Ideen für ein neues Buch. „Als ich mit ,Ausgeliefert‘ fertig war, wollte ich eigentlich sofort mit etwas Neuem anfangen. Aber da war mir noch nicht klar, dass ich das folgende Jahr vor allem damit verbringen würde, um die Welt zu reisen und in Interviews über mich selbst zu reden.“(lacht)

Doch schon bald wird sie zurückkehren nach Anacortes, ein kleines Städtchen auf Fidalgo Island, unweit von Seattle, wo sie mit ihrem Mann mittlerweile lebt. Übrigens nur etwa 200 Kilometer von ihrem in der Kindheit meist abwesenden Vater entfernt -mittlerweile können die beiden zwar miteinander sprechen, aber die unsagbaren Dinge, die „Ausgeliefert“ offenbart, stehen noch immer zwischen ihnen.

Geneviève Castrées Graphic Novel „Ausgeliefert“ ist bei Reprodukt erschienen, hat 80 Seiten und kostet 16 Euro.

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