Das Leben der Boheme

Die Tindersticks finden die Schönheit.

Als draußen der Brit-Pop tobte und Oasis und Blur sich mit „Roll With It“ und „Country House“, „(What’s The Story) Morning Glory?“ und „The Great Escape“ erbitterte Kämpfe um die Chartsspitze lieferten, zogen die Tindersticks die schweren verstaubten Vorhänge vor die blinden Scheiben ihrer viktorianischen Villa, ließen die Orgel wummern, die Säge singen und ihre Bögen spröde über die Violinen- und Celli-Seiten kratzen. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit waren sie zwischen all den löchrigen Schuhen, den vergilbten Buchseiten und verblassten Fotografien, den rotweinfleckigen Laken und verflossenen Tränen auf die Schönheit gestoßen. „I can see little twinkly Stars, like Christmas tree lights in faraway Windows. Rings of brightly coloured rock floating around orange and mustard planets.“

Die beklemmenden Albträume des gerade mal ein Jahr zuvor erschienenen Debüts sind auf dem zweiten Tindersticks-Album einem melancholisch gefärbten Ennui gewichen. „You’ve been lying in bed for a week now/ Wondering how long it’ll take/ You haven’t spoken or looked at her in all that time/For that was the easiest line you could break“, murmelt Stuart Staples, ein schöngeistiger Bohemien und Tunichtgut. Ein Bruder im Geiste von Jarvis Cocker, der den Britpop auf Pulps „Different Class“ als eine Art Anti-Ray-Davies mit großer Blasiertheit die Ironie lehrte. Sein Jagdrevier waren die Diskotheken und Szene-Clubs, die Spiegelkabinette des schönen Scheins. „I want to live like common people/ I want to do whatever common people do/I want to sleep with common people/ I want to sleep with common people, like you.“

Scott Walker, dessen Spätsechziger-Alben auch in den Plattenschränken von Staples und Cocker stehen dürften und der einige Jahre später das letzte Pulp-Album „We Love Life“ produzieren sollte, legte elf Jahre nach „Climate Of The Hunter“ mit „Tut“ ein abgründiges, surreales, geheimnisumwittertes Großwerk vor. Europäische Avantgarde, Minimal Music und Kunstlied standen Pate für diese dichte Soundcollage, die Walker mit seiner Bearbeitung eines Gedichts von Pier Paolo Pasolini beginnt.

In den USA wurde derweil nach dem Ende des Grunge die Sicht auf andere Spielweisen amerikanischer Musik frei – bahnbrechende Alben aus Rock {„Mellon Collie And The Infinite Sadness“ von den Smashing Pumpkins) und Americana (Lambchops „How I Quit Smoking“ und „Tomorrow The Green Grass“ von den Jayhawks) erscheinen, Will Oldham und Bill Callahan etablieren sich unter den Pseudonymen Palace Music und Smog mit “ Viva Last Blues“ und „Wild Love“ als hoffnungsvolle Songwriter-Geheimtipps, und Pavement sabotieren ihre nach dem Single-Erfolg von „Cut Your Hair“ hoffnungsvolle Karriere mit dem fantastisch eklektischen „Wowee Zowee“, das mit einer der besten Eröffnungszeilen, die ein Pop-Album je hatte, beginnt: „There is no castration fear.“

Auch in Deutschland zitiert man wieder Songzeilen: „Ich weiß nicht, wieso ich Euch so hasse, Fahrradfahrer dieser Stadt“, „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“, „Jungs hier kommt der Masterplan“ oder „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ – alle vom Tocotronic-Debüt „Digital ist besser“.

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