Das Taj Mahal der Archive

Seit 35 Jahren widmet sich Richard Weize mit seinem Label Bear Family aufwendigen Wiederveröffentlichungen, die Gesamtwerk-Kartons sind weltberühmt. Ein Besuch auf dem Land.

Alle fünf Jahre fahren Reporter ins norddeutsche Vollersode und wärmen sich am Feuer alter Tugenden. Im Hauptquartier von Bear Family Records bespricht man sich mit Richard Weize zum Niedergang des guten Geschmacks im Allgemeinen und dem der Musikindustrie im Besonderen. Der Bear-Family-Chef ist eine Art Don Quixote, sein Label ein Ort des Widerstands. In Vollersode erscheinen seit 35 Jahren Alben von Künstlern, die ihre beste Zeit meistens in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern hatten, das ist die Zeit der musikalischen Sozialisation Weizes. Die legendären Box-Sets zu Johnny Cash, Hank Snow, Dean Martin, aber auch Doris Day und Friedrich Hollaender stehen in Plattenläden am Times Square und am Piccadilly Circus, sind von Sammlern auf der ganzen Welt heiß begehrt und angesichts des allgemeinen Werteverlustes sozusagen der Inbegriff für einen ordentlichen Umgang mit der Musikgeschichte.

Man greift vielleicht nach einer bleischweren Box von Gene Autry oder der Carter Family, will alles sofort anhören, blättert durch die oft mehrere hundert Seiten starken Begleitbücher im LP-Format und ist für einen Moment glücklich, so groß ist das haptische Vergnügen. Bear Family macht nicht nur Boxen und einzelne CDs – ein paar Kilometer die Straße runter sitzt die Mailorder-Abteilung, die ungefähr 30.000 Artikel aus Country, Rock’n’Roll, Blues und Schlager vertreibt. Doch die Boxen, das ist Weizes Identität, ein Lebenswerk der Lebenswerke, akribisch recherchiert und mit unbändigem Willen zur Vollständigkeit gesammelt. „Wir haben den Standard gesetzt“, sagt Weize, „die anderen haben versucht, es uns nachzumachen. Meistens ohne Erfolg. Nicht, weil wir klasse sind – die anderen sind einfach schlecht. Jetzt gibt es ja nicht mal mehr Konkurrenz, weil keiner mehr solche Boxen wie wir macht.“

Markige Worte des Mannes mit Rauschebart, Latzhose, Flanellhemd und Zopf. Weize ist mittlerweile selbst ein bisschen eine Legende, zählt Leute wie Bob Dylan und Lou Reed zu seinen treuen Kunden, war gut bekannt mit Johnny Cash und June Carter und ist überhaupt mit vielen Musikern und Musikfunktionären seiner Generation eng vertraut. Wenn er über den Niedergang der Branche spricht, meint er eigentlich den Niedergang der westlichen Kultur insgesamt. Weize wettert gegen Politiker mit gefährlichem Halbwissen, Bänker ohne Schuldbewusstsein und Plattenfirmenangestellte, die keine Ahnung von dem haben, was sie da vermarkten und sich einen Scheißdreck für Musik interessierten. Es ist die Klage des aufrechten Mannes. „Ob ich nun Angela Merkel bin oder Richard Weize – ich muss doch in der Lage sein, morgens in den Spiegel zu gucken. Wenn ich nur noch ferngesteuert bin, muss ich etwas anderes mit meinem Leben machen.“

Früher ist Richard Weize oft in die USA gefahren. Recherchieren, stöbern, Originalaufnahmen suchen. In den Archiven der großen Plattenfirmen lagerten die Bänder unzähliger Sessions, das Gedächtnis der Musikgeschichte. Wohl gab es damals Ablagesysteme, doch wie waren nicht so verlässlich, als dass man nicht auf dem einen oder anderen „Schnürsenkel“ (Viertelzoll-Bänder) ein vergessenes Lied finden konnte. Weize kannte die richtigen Leute, konnte in den Archiven ein- und ausgehen, ohne sich jedes Mal umständlich erklären zu müssen.

Doch diese Zeiten sind offenbar vorbei. Die verstreuten Archive sind von externen Unternehmen zu großen Lagern zusammengefasst worden. Einer der Branchenriesen heißt Iron Mountain. Da ist das Reinkommen schwieriger, doch das ist nicht unbedingt schlimm: Die Bänder sind mittlerweile umfassend dokumentiert, die verborgenen Schätze gehoben. „Heute ist für mich vieles Routine“, sagt Weize. „Jemand hat eine Idee für eine Box, oder ich stolpere über ein interessantes Band. Dann beginnt so eine Recherche, bis wir alles zusammen haben.“

Vor ein paar Jahren schrieb Country Joe McDonald einen Brief mit der Bitte, Weize solle doch mal eine Box machen, die die musikalische Reflexion des Vietnamkrieges aufarbeitet. Das unlängst erschienene Werk ist monumental, umfasst 13 CDs und ein 300 Seiten starkes Buch mit vielen Fotos und erhellenden Einlassungen aus Expertenmündern. Dylan, Baez, Haggard und sogar die Doors gaben bereitwillig ihre Songs her, nur CSN&Y zierten sich. Gestern bekam Weize eine Postkarte vom über 90-jährigen Pete Seeger, der die Box „fantastic“ findet, allerdings befürchtet, nicht mehr genug Lebenszeit zu haben, um sie durchzuhören.

Reich wird freilich keiner von den Boxen, die Bear Family produzieren. Das Label nicht, weil die Arbeit aufwändig und die Verkaufserwartung begrenzt ist. Und der Künstler sowieso nicht, weil seine vor fünfzig Jahren geschlossenen Verträge ihn per se mehr oder minder leer ausgehen lassen. Wenn überhaupt etwas reinkommt, kriegt es das Label von damals. Das gebe dann schon mal Stress, sagt Weize, weil dieser oder jener Sänger sich ausgenutzt fühlt. „Wenn er die fertige Box sieht, denkt der Mann im Walde von Georgia, hier geht die Post ab. Dass wir hier mit Hängen und Würgen tausend Stück verkaufen, das versteht der natürlich nicht.“ Johnny Cash zum Beispiel sprach ein paar Jahre lang kein Wort mit Weize. „Der dachte, ich verarsche ihn“, sagt Weize, „später hat er dann aber gesagt, das Beste, was von ihm veröffentlicht worden sei, hätte ich gemacht. Da denkt man dann, da hast du wohl relativ gut gearbeitet.“

Ein paar Wünsche bleiben offen, ein paar Projekte unvollendet. Bislang nicht realisieren konnte Richard Weize zum Beispiel eine Box mit dem Werk von Nancy Sinatra. „Etwas flatterhaft“ sei die Dame, sagt Weize und erinnert sich an einige Zusammenkünfte in Los Angeles, bei denen er sich mit der Tochter von Frank einfach nicht einigen konnte. Beim ersten Mal habe sie das als Treffpunkt vereinbarte Restaurant gleich wieder verlassen wollen, sagt Weize. „Die konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Landdussel mit Zopf und Latzhose ernsthaft ihr Termin sein soll.“ Jörn Schlüter

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