Der Archivar der Tränen

Die Enzyklopädie ist fertig: Mark Oliver Everett alias Eels hat sieben Jahre lang an seinem Lebenswerk über den Zusammenhang zwischen Schmerz und Glück gearbeitet

Wahrscheinlich jammern wir tatsächlich zuviel. Jede kleine Preiserhöhung, jede neue TV-Show: Im Prinzip könnte man sich jeden Tag fragen: Ärgerst du dich noch, oder lebst du schon? Für Mark Oliver Everett gehören auch Niederlagen und tragische Verluste zum erfüllten Leben: „Do you know what it’s like to fall on the floor/ And cry your guts out ‚til you got no more/ Hey man, now you’re really living!“ singt er in einem der schönsten Songs seines neuen Eels-Albums „Blinking Lights And Other Revelations“. Das Leben, will er uns damit sagen, ist kein stimmiges Gesamtkunstwerk, sondern eine Collage aus einzelnen Augenblicken. Nicht nur aus Glücks-Momenten.

2Die Idee zu dem Album kam mir vor einigen Jahren, als ich nachts aus dem Fenster sah“, erzählt Everett. „Ein Flugzeug durchquerte den nächtlichen Himmel, und ich mußte an die Menschen denken, die unter Flugangst leiden. Wie könnte man diesen Leuten ihre Angst nehmen? Vielleicht, wenn die blinkenden Lämpchen an den Flügeln einen Morsecode senden würden der sagt: ,Keine Angst, alles ist in Ordnung!‘ Ich selbst mag blinkende Lichterketten, weil sie mich an all die wundervollen Momente im Leben erinnern. Sie dauern meist nicht lange, doch mit den traurigen Augenblicken ist es ja ebenso. Das Schicksal geht in beide Richtungen.“

Dabei hätte der heute 42jährige Eels-Chef allen Grund, am Leben zu verzweifeln. Die Zahl der tragischen Todesfälle in seinem engen Familienkreis gäbe genug Stoff für einen 700-Seiten-Roman, doch Everett wählte das kleine Format des Popsongs und hat es vorgezogen, im Keller seines Hauses 33 ungeheuer berührende Lieder aufzunehmen – die mal furchtlos autobiographisch sind, manchmal aber auch nur von Menschen erzählen, denen es so erging wie ihm. Sieben Jahre hat er dafür gebraucht, und keines der parallel entstandenen vier Alben der Eels fiel ihm so schwer wie eben „Blinking Lights“. „Diese Songs sollen ein Leben reflektieren, mit allen Erfahrungen. Und weil man manche Dinge eher fühlen muß als verstehen, gibt es auch einige Instrumentals.“

Unterstützt wurde Everett dabei unter anderem von Tom Waits, Peter Buck und der Lovin‘ Spoonful-Legende John B. Sebastian: „Ich habe zu Hause eine Autoharp, und John spielt ziemlich gut.

Wenn ich talentierte Leute um mich habe, gebe ich ihnen immer gerne etwas Arbeit Sogar meinem Hund. Als ich herausfand, daß er gut jaulen kann, habe ich ihn auch mitmachen lassen.“ Da lacht der Eels-Chef und sieht aus wie eine Mischung aus Hipster und Nerd.

Die wenigsten wird das überraschen: Mit dem bunten Pop-Life kann der aus Virginia stammende Musiker nichts anfangen: „Musik hat mein Leben gerettet, wirklich. Aber aus einer geschäftlichen Perspektive betrachtet, ist meine Karriere eine lange Serie einsamer täglicher Kämpfe. Das ist so mühsam und saugt einen aus. Weil ich nicht möchte, daß mir eine Firma reinredet, mache ich alle meine Platten selbst und zahle auch selbst dafür.“ Wenn er so ins Grummeln kommt, wirkt der drahtige Eigenbrödler wie jemand, der lieber gar nicht berühmt sein möchte als für die falschen Dinge.

„Things The Grandchildren Should Know“, das persönlichste Stück des Albums, handelt davon, daß Everett zunehmende Ähnlichkeiten zwischen sich und seinem mürrischen, wortkargen Vater sieht: „Mein Vater sprach kaum mit mir, als er noch lebte. Obwohl wir uns 18 Jahre lang täglich gesehen haben. Er war sehr unnahbar, ich war jung und rebellisch. Nach seinem Tod habe ich mich bemüht, mehr über ihn zu erfahren – durch Bücher, Zeitschriften und das Internet. Und wenn man älter wird, blickt man irgendwann in den Spiegel und sieht seinen Vater. Da wurde mir klar: Wir ähneln uns mehr, als ich jemals wahrhaben wollte. Ich hätte gerne ein Tagebuch von meinem Vater gelesen. Und damit man wenigstens mich besser versteht, habe ich dieses Lied geschrieben.“

Rockmusik kann uns viel über das Leben erzählen, und Mark Oliver Everett begnügt sich auf „Blinking Lights And Other Revelations“ nicht mit charmantem Blabla und Revolutionen in der Disco: „My kind of love is an ugly love. But it’s real and it lasts a long, long time.“ Manchmal sind es die Schmerzen in den Narben, die uns zeigen, daß wir noch leben. Ein schöneres Album als das der Eels wird man dieses Jahr lange suchen müssen.

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