Digitale Taschenspieler

Kreativität will umgesetzt werden – nicht irgendwann, sondern jetzt, hier, sofort und überall. Vor nicht allzu langer Zeit musste man dazu seine musikalischen Geistesblitze ins Studio tragen -und hoffen, dass sich die Killer-Hook auf dem Weg dorthin nicht aus den Hirnwindungen verabschiedete. Heute steckt das Studio im Smartphone und wartet auf spontanen Kreativ-Input. Musikalische Ideen festhalten, umsetzen und austauschen, gar ganze Songs arrangieren und ohne Zeitverzug auf Sound-Cloud laden, all das versprechen die kleinen bunten Wunder-Tools und laden zur Jam mit Mensch und Maschine ein. Ist die Musik-App nun ein weiteres Spielzeug für alle, die ihr Grand Theft Auto nicht mehr sehen können? Oder sind die Bonsai-Synthies, Sampler und Effekte tatsächlich in der Lage, musikalische Ideen adäquat umzusetzen?

Matthias Schuster, Hamburger Produzent mit einer langen Credit-Liste aus der Punk-, Post-, und New-Wave-Szene, hält große Stücke auf den miniaturisierten Instrumentenpark: „Ich habe in 40 Produktionsjahren alle technischen Innovationen, vom Analogsynthesizer zum Sampler und vom Plug-in zum iPhone/iPad, miterlebt. Musik-Apps haben sich definitiv aus der Spielzeugecke befreit. Sie können inzwischen mit den Werkzeugen auf Rechnern oder Laptops mithalten“, sagt er. „Vor allem das iPad schließt sehr überzeugend die Lücke zwischen konventioneller Hard- und Software. Problematisch ist einzig die Produktpolitik wichtiger Hersteller. Die Anbindung an externe Audio- und Steuer-Hardware wird so nicht immer erleichtert.“

Dennoch hat Schuster einen großen Teil seiner umfangreichen Instrumentensammlung ins iPad verbannt: „Früher hatte ich Regale voller altersschwacher Synthesizer und Drumcomputer, jetzt stecken die Dinger in einigen toll programmierten Apps – und klingen großartig.“ Die Renner unter den Musik-Apps sind zweifellos Sound-Erzeuger aller Couleur. Die Auswahl ist riesig und wächst fast täglich. Es finden sich zahllose, oft liebevoll gestaltete Reinkarnationen berühmter Synthesizer-Legenden.

Wer 1980 keine 100.000 Mark für einen Fairlight-CMI-Sampler übrig hatte, kann sich jetzt ab 9 Euro eine Ahnung von Trevor Horns Sound in sein iPhone laden. Nicht selten sind es die Hersteller dieser legendären Instrumente selbst, die ihre Frühwerke als App wieder auferstehen lassen.

Mindestens ebenso aufregend sind neue Konzepte, die ihren Schwerpunkt auf einen intuitiven und spielerischen Zugang setzen. So erlauben Beatwave oder Yellofier – Letzteres entstand als Zusammenarbeit von Yello-Mastermind Boris Blank und Dancefloor-Wizard Håkan Lidbo – das spontane Aufzeichnen, Verfremden und Arrangieren jedweder Geräusche zu erstaunlich komplexen Tracks. Die Bedienung erfolgt mittels bunter Icons. Das fertige Produkt stellt man ohne Umwege direkt ins Netz oder lädt es im „richtigen“ Studio via Audiobus oder Inter-App in die Profi-Workstation. Tools, mit denen sich spontan musikalische Ideen festhalten, skizzieren und austauschen lassen, stehen in der Gunst ambitionierter Klangkünstler weit vorn, können sie doch den Weg von der Idee bis zur finalen Umsetzung erheblich verkürzen. Längst haben fast alle etablierten Profi-Software-Tools ihr iOS- oder Android-Pendant erhalten, sei es Steinbergs Cubase, Native Instruments‘ Maschine oder Apples GarageBand. Die Funktionsvielfalt lässt sich hier mit In-Apps, dem Gegenstück zum traditionellen Plugin, zusätzlich erweitern. Matthias Schuster ersetzt damit im Bedarfsfall sogar sein Logic Pro System. Knackpunkt ist natürlich die geringe Display-Größe.

Wer professionell arbeiten will, greift deshalb meist zum iPad. Letzteres hat sich gerade als Performance-Tool einen festen Platz erobert. So bestreitet Electronica-Virtuose Jamie Lidell seine extrovertierten Auftritte zu weiten Teilen mit einem iPad und Native Instruments‘ iMaschine, Matthias Schuster schwört live auf den Klangverbieger StompBox: „Er ersetzt einen ganzen Koffer voll mit traditionellem Equipment.“

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