Der Blumenflüsterer

Pass auf, wo du stehst! Pass auf, wo du gehst! Am Tag und in der Nacht überall wirst du bewacht!“ Tief aus der Gruft kriecht diese unheilig schnarrende Stimme, quälend, bedrohlich, kurz vor dem Krächzen. Darunter klöppelt und dengelt es dunkel, ein sich somnambul in den eigenen Echos verlierender Dub-Reggae-Bass schleppt sich träge dahin. Es geht um totale Kontrolle und um finstere Wesen, die nach der Weltherrschaft greifen: „Aus der Säure, aus dem Schrott, aus dem Schleim und aus dem Kot“ kriechen die Biomutanten, die dich töten wollen. Am Ende ruft eine schrille Sirene zum letzten Gefecht.

„Biomutanten“ heißt dieses erstaunliche, in der Musik wie im Text gleichermaßen gegenwärtig gebliebene Stück, das Holger Czukay und Conny Plank 1980 unter dem Namen Les Vampyrettes aufgenommen haben. Plank war damals gerade endgültig zum deutschen Starproduzenten aufgestiegen, und Czukay hatte sich nach seinem Ausstieg bei Can und einer längeren Schaffenskrise mit Planks Hilfe wieder aufgerappelt. Entstanden ist das Stück in Connys Studio in Neunkirchen-Seelscheid, einem Vorort von Köln. Dort saßen sie, erinnert sich Holger Czukay, Anfang der Achtziger häufig in Planks Küche, gemeinsam mit den Musikern, die er produzierte -von Eurythmics bis zu Gianna Nannini, von Ultravox bis zu Heinz Rudolf Kunze – und sinnierten über neuen Projekten.

Nach 34 Jahren ist das schmale Gesamtwerk der Vampyrettes – neben „Biomutanten“ besteht es aus genau einem weiteren Stück namens „Menetekel“ – von Herbert Grönemeyers Label Grönland neu aufgelegt worden, zusammen mit Czukays zweitem Soloalbum „On The Way To The Peak Of Normal“. Conny Plank verstarb im Dezember 1987, sein Studio ist lange schon abgerissen. Aber das auf der anderen Seite von Köln gelegene Inner Space Studio, in dem Czukay mit Can in den Siebzigerjahren einige der prägendsten Platten der deutschen Rockgeschichte aufgenommen hat, gibt es immer noch. Es liegt in Weilerswist, einem tristen Vorort an einer noch viel tristeren Hauptverkehrsstraße, und gehört inzwischen Czukay allein, der in der Wohnung darüber mit seiner Partnerin Ursa Major lebt.

Zum Gespräch über die Vampyrettes-Platte treffen wir uns an einem verregneten Winterabend und trinken erst einmal zwei Becher Filterkaffee in einer Bäckereikettenfiliale vor dem Haus. Czukay, inzwischen 75 Jahre alt, trägt T-Shirt, Jogginghose und Sandalen ohne Socken. Er wirkt körperlich angeschlagen, geht langsam, den Rücken gebeugt und entschuldigt sich dafür, dass er mich nicht ins Studio bitten kann. Dort sei es nicht aufgeräumt, seiner Lebensgefährtin gehe es nicht gut, darum könnten sie keinen Besuch empfangen. Er sei erschöpft, sagt Czukay, weil er sie rund um die Uhr pflege. Und es gibt gerade so viel zu tun!

Grönland wolle nämlich nicht nur die beiden schon fertigen Platten wiederveröffentlichen, sondern auch noch zwei weitere. Und im Frühjahr soll auf dem Hamburger Label Bureau B ein ganz neues Album von ihm erscheinen, das er mit Ursa Major eingespielt hat und mit Drew Kalapach, einem in Houston lebenden Experten für Energieversorgung, den er beim Chatten im Internet kennengelernt hatte. Kalapach entpuppte sich als großer Can-Verehrer und Hobbymusiker, seit fast zehn Jahren schicken sie sich nun schon Sounddateien hin und her und produzieren Songs. „Er ist inzwischen einer meiner besten Freunde“, sagt Czukay. Persönlich getroffen haben sie sich allerdings noch nicht.

Für den zweiten Teil des Gesprächs gehen wir zu ihm nach Hause. Um dorthin zu kommen, muss man an der Bäckerei vorbei, durch einen betonierten Hinterhof und erreicht über eine sehr schmale, steile, gewundene Treppe sein Wohnzimmer. Während des Gesprächs klingelt des Öfteren das Telefon: Es ist Ursa Major von nebenan, die sich sehr darüber freut, dass ich gekommen bin, und es bedauert, mich nicht persönlich begrüßen zu können. „Sie macht alles für mich“, sagt Czukay, „das ganze Management, sie ist wirklich tough!“

Sind eigentlich alle Can-Platten im Inner Space Studio entstanden? „Nein“, sagt Czukay, „die ersten beiden haben wir in Schloss Nörvenich aufgenommen, nicht weit von hier. Da gibt es ein fantastisches Treppenhaus, das hat eine unwahrscheinliche Hallkraft!“ Dort habt ihr gespielt?“Nein, gespielt haben wir in dem trockenen Übungsraum, aber die Lautsprecher standen im Treppenhaus und wurden da von den Mikrofonen abgenommen.“ Wer hat das abgemischt?“Niemand. Wir hatten gar kein Mischpult!“ – Ach! – „Unser erster Sänger Malcolm Mooney bekam zwei Mikrofone, eins links und eins rechts. Links neben ihm war die Orgelbox, rechts neben ihm die Gitarrenbox. Sie wurden über die gleichen Mikros abgenommen wie sein Gesang. Darum mussten wir uns disziplinieren, und immer so spielen, dass seine Stimme nicht untergeht.“

Auch bei „Tago Mago“, der ersten LP mit dem neuen Sänger Damo Suzuki, sei das noch so gewesen. Seit 1970 haben sich Can ihr Studio in Weilerswist eingerichtet; „Ege Bamyasi“ war die erste Platte, die dort aufgenommen wurde. Voll funktionsfähig war das Inner Space Studio schließlich 1972. Eine weitere Platte mit Damo Suzuki -„Future Days“ – entstand dort noch, bevor der Sänger im folgenden Jahr die Band plötzlich verließ. „Er hat geheiratet“, sagt Czukay, „und dann war er weg.“

Für Can war dies das einschneidende Ereignis in ihrer Geschichte. Nicht nur, dass man keinen Sänger mehr hatte, auch das fragile Gefüge unter den anderen Musikern begann zu bröckeln. „Wir probierten diverse Bewerber aus“, sagt Czukay, „aber keiner von denen hat uns gepasst. Da habe ich gesagt: Warum holen wir den Sänger nicht einfach aus dem Äther? Ich hatte mir kurz vorher ein Morsegerät gekauft, das habe ich mit einem Keyboard und einem Radiogerät verbunden. Mit der Morsetaste konnte ich Musik, die ich zufällig beim Herumdrehen am Radio fand, rhythmisch so unterbrechen, dass sie mit der Musik der Band synchronisiert wurde.“ So hätte er der Band gern einen Sänger gebastelt, sagt Czukay: „Aber das wollten die anderen nicht.“

Die Lage verschärfte sich, als 1976 zwei neue Mitglieder in die Band kamen: der Bassist Rosko Gee und der Percussionist Reebop Kwaku Bah, die vorher in Steve Winwoods Band Traffic gespielt hatten. Mit ihnen, sagt Czukay, sei so eine Art Supergroup-Geist eingezogen: Man wollte „professioneller“ werden, vergaß darüber aber das Experiment. Rosko Gee verdrängte ihn als Bassisten, so habe er sich auf elektronische Instrumente verlegt. „Ich hatte auf der Bühne einen ganzen Tisch voll damit. Und ein Telefon! Ich dachte an Auftritte, bei denen zum Beispiel plötzlich das Telefon klingelt, wodurch dann mehr Spontaneität reinkäme. Aber Reebop sagte nur:,Du willst uns die Seele stehlen!‘ Das ging so weit, dass er mir den Stecker rauszog, wenn ich spielte. Ich habe mir gesagt: ,Drei Mal macht er das, dann gehst du.‘ Und so war es. Im Juni 1977 bin ich weg.“

Wohin? „Nach Thailand, da habe ich mich in ein Kloster zurückgezogen. Ich hatte inzwischen die Telepathie zu Pflanzen entdeckt, die wollte ich den Mönchen dort vorführen. Und die waren ganz angetan davon!“ Was genau hast du denen vorgeführt?“Telepathie zu Pflanzen! Wenn ich mit ihnen kommunizierte, konnten sie sein wie eine Peitsche. Das habe ich irgendwann hier zu Hause festgestellt, dass Pflanzen meine Gedanken lesen können und meinen Befehlen gehorchen. Ich dachte:,Das gibt es doch gar nicht!'“

1978 kam Czukay nach Deutschland zurück und suchte nach einer neuen Bezugsperson. Er fand sie in Conny Plank, den er seit Anfang der 70er-Jahre lose kannte. Zunächst assistierte Czukay ihm als Aufnahmeleiter. „Zum ersten Mal zusammengearbeitet haben wir bei einem Konzert von Zeltinger, dem Kölschrocker. Er spielte in einer Kneipe, und Conny stand mit seinem Studio vor der Tür. Er hatte so eine Art Ü-Wagen, mit dem er seine Künstler aufnahm, ich war das Verbindungsglied zwischen ihm draußen und Zeltinger drinnen. Bei den Bläck Fööss haben wir das genauso gemacht. Aber auch bei D. A. F., Killing Joke und Ultravox. Wir haben diese Technik ausgebaut, und Conny ist mit seinem rollenden Studio oft in Weilerswist gewesen und hat Künstler aufgenommen, die im Inner Space Studio gespielt haben.“ Hat sein eigenes Studio nicht ausgereicht? „Sein Raum war nicht gut, er war anfangs zu niedrig, akustisch nicht optimal. Im Inner Space Studio hatten wir ja alle Möglichkeiten.“

Erst Anfang der Achtziger war Planks Studio fertig und etabliert – „mit einem akustisch genau ausgemessenen, komplett holzverschalten Raum“, so Czukay. Es wurde zu einem Treffpunkt für Musiker aus aller Welt. „Ich lernte auf diese Weise viele Leute kennen; mit Dave Stewart von Eurythmics habe ich mich sofort bestens verstanden. Und die haben mich alle akzeptiert! Dadurch habe ich so viel Selbstvertrauen gefasst, dass ich auch als Solokünstler wieder gut arbeiten konnte.“ Für Czukay begann damals eine äußerst kreative Zeit. Er brachte seine allseits gefeierte erste Solo-LP „Movies“ heraus, spielte wieder mit seinem alten Can-Partner Jaki Liebezeit zusammen, später mit Jah Wobble und David Sylvian -und mit der Kölner Punkgruppe S.Y.P.H. Mit ihr entstand 1981 „On The Way To The Peak Of Normal“. Spannungsfrei verlief die Arbeit nicht: Mit dem S.Y.P.H.-Sänger Peter Braatz – später nannte er sich Harry Rag – geriet Czukay schnell aneinander: „Irgendwas gefiel mir nicht, der war mir zu prätentiös. Die Stellen, an denen er stimmlich explodierte, habe ich hinterher rausgeschnitten.“

Die Vampyrettes-EP entstand als Ouvertüre für das Theaterstück eines New Yorker Avantgarde-Puppenspielers am Bochumer Theater: Dieses spielte auf einer Müllkippe, auf der Monster zum Leben erwachten. Der Song „Biomutanten“ gehört zu den wenigen Liedern, in denen man Conny Plank singen hört – und das mit so tiefer, schnarrender Stimme, dass man glauben mag, er hätte einen Vocoder benutzt. Stimmt aber nicht, sagt Czukay, das war sein Originaltimbre.

Und der klackernde Rhythmus dahinter?“Das war ein Flipper, den wir nicht mehr stoppen konnten, der lief die ganze Zeit von alleine.“ Dazu gibt es Tröten und am Ende eben jene Sirene, „wenig Elektronik, eigentlich war das alles Elektromechanik! Wir wollten mit einem einfachen, überschaubaren Instrumentarium möglichst viel akustischen Horror erzeugen. Und ich finde, das ist uns damals sehr gut gelungen.“

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