Der Entrückte

ALS MORRISSEY 18 IST, gesteht ihm sein Freund Simon, dass Simons alte Dame hinter seinem Rücken über ihn herziehe. „Sie denkt, du hast einen schlechten Einfluss auf mich.“ Das bringt Morrissey ins Grübeln. „Wie kann ich einen schlechten Einfluss haben, wo ich weder schlecht, noch im Geringsten einflussreich bin? Es ist ja nicht so, dass ich unter dem Namen Violet Temper Frauenkleider entwerfe, eine Karriere im Striptanz anstrebe oder bei Beerdigungen laut Witze vorlese. Ich war noch nie betrunken, eigentlich langweile ich mich nur jeden Tag bis zur Ohnmacht.“

Die Zeit ist 1977, der Ort ist der Südlondoner Stadtteil Bermondsey, der Junge nennt sich noch Steven, trägt noch Brille und fühlt sich noch ungeliebt. Von Anfang an übrigens. Morrisseys Lebensgeschichte mit dem sogar unter Understatement-Level angesiedelten Titel „Autobiography“ beginnt mit einem Urknall in Textlyrik: „My childhood is streets upon streets upon streets upon streets. Streets to define you and streets to confine you, with no sign of motorway, freeway or highway“. Der ersten Strophe eines langen Songs gleich erzählt er, wie er 1959 in das vergessene Manchester hineingeboren wurde, und der Ärger stante pede losging: „Selbstverständlich hat meine Geburt meine Mutter fast umgebracht, weil mein Kopf zu groß war. Aber schnell war ich derjenige auf der kritischen Liste des Krankenhauses.“ Er sei x-mal operiert worden, und dann, als er endlich nach Hause entlassen wurde, habe seine eifersüchtige Schwester versucht, ihn zu ermorden.

Nie saß der Begriff Drama-Queen so perfekt wie auf diesem talentierten, angespannten Sängerkörper, der von seinen Fans seit Jahrzehnten wie ein Heiland verehrt wird. Sein Buch steht, wen wundert’s, seit dem Erscheinen in der renommierten Literaturverlagsreihe Penguin Classics (in der Autoren wie Aristoteles, Mark Twain, Thomas Mann veröffentlicht werden) auf den Bestsellerlisten der Insel. In „Autobiography“ präsentiert Morrissey seine ganze egozentrische Geschichte, detailliert bis zum Haareraufen, penibel bis zum In-die-Ohnmacht-Langweilen, größtenteils jedoch furios sprachgewaltig.

Auf 457 Seiten erklingt der Klage-Song des latent Unverstandenen, unterbrochen von nur sehr wenigen Fotos und Tongue-in-cheek-Humor, über den man höchstwahrscheinlich in seiner Gegenwart nicht laut lachen darf. Dabei kann er wirklich komisch sein, wenn er von seinen Lieblingslimericks redet, von den New York Dolls oder von seinem Freund Jon, einem 70s-Pfau – „das erste Mal, dass ich moderne Kunst in Bewegung sah“. Er erzählt von der Begegnung mit dem The-Smiths-Gitarristen Johnny Marr, von dem er sich bekanntlich nicht im Guten getrennt hat. Erstaunlicherweise kommt Marr jedoch – im Gegensatz zu den meisten seiner Geschäftspartner – in Morrisseys Erinnerungen einigermaßen positiv weg. „Er sprach guitar ohne t aus“, beschreibt er mit zugeneigter Bewunderung den nordenglischen Dialekt seines musikalischen Ex-Partners.

Das andere“Partner“-Thema wird kurz gehalten – schmutzige (oder Reiz-)Wäsche wäscht Morrissey in seinem Buch nur, wenn sie literarischen Wert hat. Es gab die zweijährige Beziehung zu einem Fotografen, die er erst 35-jährig einging; es gab einen italienischen Mann mit dem Spitznamen „Gelato“, und auch ein paar Frauen. Und seine Schüsse gegen die Royals sind so amüsant wie treffend. Aber er liefert, und das ist das Ehrliche an seiner Biografie, keinen wirklichen Grund, sich persönlich mit ihm anfreunden zu wollen: Zwar erzählt er mehr und genauer vom England der 60er-bis 90er-Jahre als viele andere. Doch gleichzeitig zeigt er, wie anstrengend, misanthropisch und pathetisch er ist und war: 50 überflüssige Seiten widmet er dem berühmten Streit mit Bandmitgliedern über unbezahlte Rechnungen, der bis vor Gericht ging. Wie ein sturer Greis listet er die kleinsten Ereignisse auf, bis sogar Hardcore-Morrissey-Hemdfetzensammler nur noch weiterblättern wollen.

Morrissey beendet sein Buch, wie er es begann – mit einem tiefen Seufzer. „I am no more unhappy than anyone else“, behauptet er, um nachzusetzen: Die meisten Menschen sind erbärmliche Kreaturen – verflucht von der Traurigkeit des Daseins. Solche Zeilen will man vielleicht nicht täglich von demjenigen hören, der neben einem seinen Hinterkopf auf dem Kissen platt drückt. Aber wenn sie oft oder gelegentlich aus den Boxen schallen, ist das wunderbar. Eigentlich schnitzt Morrissey nämlich nur weiter an seinem entrückten Status: Näher als durch dieses Buch möchte man dem Mann nicht kommen.

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