Der Erfolgsautor Haruki Murakami legt den dritten Band mit an Raymond Carver geschulten Kurzgeschichten von jäh aufstrahlenden Schicksalen vor

Am Ende von Robert Altmans makellosem cineastischem Reigen „Short Cuts“ bebt sekundenlang die Erde. Die Bilder erzittern für eine kurze Ewigkeit, doch das Beben, das die Szenerie kurz und heftig schüttelt, hat eine seltsam reinigende Wirkung auf die Seelen seiner Figuren. Sie alle, die bis dahin wie ferngesteuerte Roboter durch die Trümmerlandschaften ihrer von Altman kühl und wie mit dem Skalpell sezierten Beziehungskisten getaumelt waren, sehen plötzlich wieder klar. Das große Aufatmen macht sich breit, auch wenn die Erschütterungen noch immer als feinste Schwingungen in ihren Körpern und Gedanken anwesend sind.

Eine ähnliche Erfahrung machen auch die Figuren des neuen, nunmehr dritten auf deutsch vorliegenden Story bandes des japanischen Erzählers Hamid Murakami. Sie alle sind mehr oder weniger Betroffene jenes Hanshin-Bebens, das im Januar 1995 die japanische Millionenmetropole Kobe bis hin zu den umlieeenden Dörfer erfasste – und innerhalb von Sekunden in ein regelrechtes Horror-Szenario verwandelte. Bilder von kollabierenden, wie Kartenhäuser einstürzenden Hochhäusern und mehrstöckigen Autobahnen flimmerten anschließend im Halbstundentakt wie Trailer zu einem Hollywood-Schocker der Marke „Independence Day“ über die Fernsehschirme, und der Rest der Welt war für ein paar Atemzüge froh, nicht in Kobe und Umgebung sein zu müssen.

Die meist sprachlosen Anti-Helden in Murakamis wunderbar knappen Stories aber können ihr Lied davon singen, was es heißt, direkt oder indirekt Opfer des Bebens zu sein. Denn in sämtlichen sechs Geschichten sind die Erdstöße, vor allem aber ihre weitreichenden Folgen für den Einzelnen präsent, doch niemals unmittelbar, sondern stets in verschlüsselter oder gefilterter Form. So sind es etwa in der Auftaktgeschichte „Ufo in Kushira“ die Bilder des Grauens im Fernsehen, die die Frau des Hi-Fi-Verkäufers Komura fünf Tage und Nachte lang an die Mattscheibe fesseln, ehe sie erschöpft die Off-Taste ihrer Fernbedienung drückt, ihre Siebensachen packt und ihren Mann ohne ein Wort verlässt. Doch ab Komura zwei Wochen später in einer anderen Stadt im Bett der kecken Shimao liegt und im entscheidenden Moment versagt, wird ihm plötzlich wider Erwarten klar, dass auch er im Kern seiner verpanzerten Existenz ein Geschädigter der Erschütterungen von Kobe ist, ein Opfer der Bilder, ein unbewusst Versehrter.

,“Du hast an deine Frau gedacht, nicht wahr?‘ fragte Shimao. ‚Mhm.‘ Komura nickte, in Wahrheit aber waren es die Bilder vom Erdbeben, die ihm nicht aus dem Kopf gingen. Sobald eines verschwand, tauchte sofort ein neues auf, wie bei einer Dia-Schau. Eine Hochstraße, Flammen, Rauch, Berge von Schutt. Er konnte die Kette der tonlosen Bilder einfach nicht durchbrechen.“

Meisterhaft versteht es der 1949 in Kyoto geborene Japaner, der in seiner Heimat neben der jungen Banana Yoshimoto und ihren literarischen Fast-food-Romanen als Auflagenkönig gilt, jene Risse in den Psychen seiner Figuren offenzulegen, die bis zu dem Beben in Kobe unter der Oberfläche ihrer stereotyp durchexerzierten Verhaltensregeln kaschiert blieben. So entrollen seine sechs japanischen Short Cuts tiefenscharfe Nahaufnahmen krisenhafter Lebensgeschichten, die – von der Katastrophe direkt oder indirekt erfasst – in ihrer ganzen inneren Brüchigkeit sichtbar werden. Und galt Murakami bislang als literarischer Popstar und eloquenter, süffig fabulierender Chronist von Japans vergnügungssüchtiger Cola-Generation, deren Devise lautet „Tanzen, solange die Musik spielt“, so erweist sich der nach einem längeren Amerika-Aufenthalt wieder zurückgezogen in Japan lebende -Autor einmal mehr als Meister der kleinen Form. Als einer, dessen Texte allem voran von dem leben, was sie aussparen, verschweigen – knapp und pointenlos. Denn wie es Murakami auch in der Episode „Stilleben mit Bügeleisen“ stellvertretend und wie nebenbei versteht, die Verlorenheit einer ganzen Generation in Person zweier nächtlicher Wanderer zu offenbaren, die sich am Strand treffen, um ein Feuer zu machen, das adelt seine neuen Geschichten zu Glanzstücken moderner Kurzprosa.

Wie schwere Kugeln schieben Junko und der etwas sonderliche Herr Miyake ihre Sätze zunächst hin und her. Bis der Altere, der immer wieder an den Strand kommt, um dort seine nächtlichen Feuer zu entfachen, ihr gesteht, eine Familie in Kobe zu haben und sagt: „Dort stand zumindest ihr Haus, wahrscheinlich wohnen sie noch da.“ Daraufhin offenbart die junge Frau ihrem einfühlsamen Zuhörer ihre eigene Einsamkeit, und mit dem Blick in die Flammen beschließen die beiden, gemeinsam zu sterben. Doch dann schläft die junge Frau ein – und das Beben von Kobe lässt Murakamis Geschichte über ihr abruptes Ende hinaus noch eine ganze Weile vibrieren.

Mit Romanen wie „Gefährliche Geliebte“ aus dem Jahr 2000 und „Naokas Lächeln“ von 2001 wurde der Japaner zuletzt auch hier zu Lande einem größeren Publikum bekannt Doch allem voran auf der Kurzstrecke, in der Kurzgeschichte, die hell und plötzlich zündet, erweist sich Haruki Murakami als Könner vom Schlage eines Raymond Carver, dessen Stories er allesamt ins Japanische übersetzt hat.

Nach den Sammlungen „Ein Elefant verschwindet“ (1998) und „Wie ich eines schönen Morgens im April das lOOprozentige Mädchen sah“ (ebenfalls 1998) nun also ein dritter Band mit Stories aus der Feder des produktiven Japaners; sechs Geschichten, die dem Schicksal kleiner Leute etwas Gewaltiges und Anrührendes und oft Unheimliches verleihen. Denn das Beben wird wiederkommen, heute, morgen, irgendwann. Und das wissen, spüren die Figuren in diesen Geschichten ganz genau. Ob sie es wollen oder nicht.

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