Der Experimentier-Club

Das Konzept der Hamburger PASSIERZETTEL heißt Improvisation.

Nie klingen ihre Songs wie am Tag zuvor Es würde sich nicht lohnen, auch nur eine Textzeile dieses Quartetts jemals in ein Booklet zu schreiben. Höchstens für Literaten, die Worte unabhängig von ihrem Nutzwert lieben.

Niemals könnte jemand sie wieder mitsingen. Und es wird auch niemals ein Songbook von Passierzettel geben, selbst wenn die Band aus Hinterzimmern und Clubs und Bars ins helle Rampenlicht treten sollte. Es gibt ja keine Songs. Nur Musik. Jeden Abend andere, ob im Proberaum oder auf der Bühne. „Zwischen uns gibt es nur vermeintliche Verabredungen“, sagt Sven Wulf, meistens Bassist und manchmal auch an der Gitarre zu entdecken, „und die sind wenig präzise und sowieso unverbindlich. Ein Blick vielleicht, den man in die Runde schickt. Aber wahrscheinlich guckt ohnehin wieder keiner von den anderen.“ Macht nicht bloß nichts, ist sogar besser so. Es zementiert ein Konzept, das Passierzettel zum Unikat und Unikum der Hamburger Szene macht Jeder Ton, den Wulf, Gitarrist Thomas Siebert und Martin Pozdrowicz an Drums und Key boards wo auch immer produzieren, entsteht und vergeht im selben Moment Improvisation ist hier Programm, Verdikt und Lust Auch für Thomas Piesbergen. Den Sänget Der keine Verse notiert, weil sie ihm immer erst einfallen, wenn die Band ihm den Soundtrack dafür stellt Ein Junitag in Hamburg, wir schreiben das Jahr 2000. Die Galerie 88 auf St Pauli, früher eine schäbige Spelunke. Draußen Tausende, die den Verbleib ihrer Lieblings-Kicker in der zweiten Liga feiern, drinnen Passierzettel beim Soundcheck. Oder etwa doch bereits mitten im Konzert? „Klingt ja schon irgendwie nach Can.“ Bier für drei Mark zeitigt nicht alleine Laufkundschaft „Echt wie Can! So schön wild, so, Scheiße, weiß nicht, aber geil!“ Das richtige Wort wäre wohl psychedelisch gewesen.

„Einige unserer Versuche“, sagt Piesbergen, „werden irgendwann zu so etwas wie einem Song, und dann sind sie nicht sehr lang.“ Höchstens sechs Minuten. „Andere bewegen sich eher auf eine Struktur zu, werden dann hypnotisch und folglich auch längen“ Nicht selten 12,15 oder auch 20 Minuten. Wenn das passiert, dann wiegen am Ende immer ein paar Leute die Häupter wie einst an Abenden, da ihnen der Krautrock die Sinne verwirrte. So wie damals bei Can.

Gut vier Jahre schon besteht Passierzettel, benannt nach einer Hamburger Gasse, in der eines der Gründungsmitglieder wohnte, in der jetzigen Besetzung – „und wir haben uns zusammen gefunden“, erzählt Piesbergen, „nachdem wir gerade einmal geprobt haben und dann gleich aufgetreten sind.“ Here we we, we don’t know why. Oder eigentlich doch. „Wir freuen uns wirklich jedes Mal wieder neu aufs Spielen“, meint Piesbergen, „und ein richtiges Repertoire empfände zumindest ich inzwischen als echt beklemmend.“ Wulf nickt, „die Spannung, selbst überhaupt keine Ahnung zu haben, was im nächsten Moment auf der Bühne passiert, gibt es halt nur in der freien Improvisation.“ Bei keiner Probe, keinem Auftritt von Passierzettel fehlt der Recorder: „Wir besitzen jedes Stück, das wir jemals gemeinsam eingespielt haben, als Konserve.“

Schön für die durchaus nennenswerte Fangemeinde, die mittlerweile auf der bandeigenen Homepage (man ist ja modern) www.passierzettel.de gut ein halbes Dutzend CDs des Hamburger Experimentier-Clubs erstehen kann. Und bei Tracks wie „Chinese Novel“ oder „Old Rock’n’Roll Thing“ fragt man sich schon, weshalb sich Passierzettel noch nicht mit messbarem Ruhm bekleckert haben. Sven Wulf und Thomas Piesbergen fragen sich das nicht. Die fragen sich vielleicht eher, warum sich jemand für jenen Ruhm selbst an die Leine legt. Und worauf man sich dann noch freuen kann. Auf Proben im Kellerraum ja wohl kaum.

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