Der manische Realist

Mit seinem literarischen Debüt will sich der Autor Jan Brandt an Größen wie Roberto Bolaño messen. Der Handlungsort seiner Coming-of-Age-Geschichte ist ganz bodenständig: Ostfriesland.

Mit dem satten Kilo, das es auf die Waage bringt, wirkt Jan Brandts Romandebüt „Gegen die Welt“ (Dumont, 22,99 Euro) zwischen all den literarischen Erstlingen des Bücherherbstes wie ein grinsender Riese neben einer Horde verängstigter Zwerge. Wo andere sich in der Regel mit schmalen 180-Seiten-Werken ins Rampenlicht vorzutasten versuchen, tritt der 1974 im ostfriesischen Leer geborene Literaturwissenschaftler und Absolvent der deutschen Journalistenschule selbstbewusst mit einem 928-seitigen Romankoloss an, der nicht nur von seinem Textumfang her Staunen macht. Denn „Gegen die Welt“ liest sich wie ein Bastard aus dem Uwe Johnson der „Jahrestage“, der Abgründigkeit von Jerome D. Salinger und dem Horror von Stephen King. Eine wilde Mixtur aus verstellt autobiografischer Rekonstruktion, Jugendroman, Coming-of-Age-Geschichte und fiebriger Untergangsfantasie. Ein wuchtiges, wunderbar anmaßendes und in seiner Detailversessenheit und seinem lexikalischen Reichtum triumphales Buch, das sich gegen eine Welt der Verhinderung und der Unterdrückung richtet.

„Ich hege schon lange eine gewisse Begeisterung fürs Monumentale“, erklärt Brandt und nennt als Referenzen für sein im Ostfriesland der 70er-Jahre wurzelndes Riesenwerk selbstbewusst Größen wie Roberto Bolaño, Richard Ford oder Jonathan Franzen. „Und warum sollte mein Buch weniger Aufmerksamkeit erhalten, bloß weil es länger und dicker ist als andere? Ich hatte eine ganz bestimmte Geschichte im Kopf, die ich erzählen wollte. Und dass ich dafür über 900 Seiten brauchte, finde ich nur angemessen. Denn bei dem, was mir schon vor Jahren vorschwebte, hätten es leicht auch zweitausend werden können.“

Fünf Jahre hat Brandt, der zuvor als Reporter für die „FAZ“ und die „Süddeutsche“ unterwegs war, an der Geschichte seines juvenilen Alter Ego Daniel Kuper geschrieben, der als Spross einer Drogisten-Dynastie in dem fiktiven ostfriesischen Örtchen Jericho auf seinem Weg in eine am Ende nicht zufriedenstellende Freiheit durch sämtliche Dunkelzonen des Heranwachsens taumelt. Als „Chronik des Wahnsinns des Erwachsenwerdens“, bezeichnet der Autor sein Werk, in dem neben vielen anderen auch und vor allem die Frage gestellt wird, ob es erstrebenswert ist, als Erwachsener gedanklich noch einmal in die Kindheit zurückzukehren. „Denn was bleibt, wenn man anschließend feststellen muss, dass sich so vieles von dem, was man einmal wollte, einfach nicht erfüllt hat? Doch vor allem Enttäuschung.“

Brandt hat – dem Zemeckis-Credo „Zurück in die Zukunft“ folgend – ein Buch über das Grauen einer Kindheit in dörflicher Enge geschrieben, und sie mit allem versetzt, was der Gefühls- und Gedankenreichtum eines Betroffenen dazu hergibt: Wut, Verzweiflung, Einsamkeit, Resignation, Rachegelüste, verkappte Religiosität und diffuse Heilssehnsüchte. Inszeniert als abenteuerliche Rückreise in die Vergangenheit, als Trip in die noch einmal imaginierte Kindheits- und Jugendhölle. Das Resultat ist eine raumgreifende Meditation über Freundschaft, die Macht der Musik, Liebe und andere Grausamkeiten. Und darüber, weshalb Zukunft bereits vorbei sein kann, ehe sie überhaupt begonnen hat.

„Ich denke, mein Buch hat nicht zuletzt auch den Charakter einer Beichte“, sagt Brandt in Anspielung auf seinen Protagonisten Daniel, der im Buch einen Jungen namens Peter Peters gemeinsam mit anderen in den Untergang treibt. „Daniel fühlt sich schuldig, und dieses Schuldgefühl grundiert seine weitere Geschichte.“

Schnee, der aus einem heiteren Septemberhimmel über Jericho niedergeht und die Gefühlsskalen der darunter Verschwindenden schlagartig nach unten treibt; Kornkreise, die jäh auf die Anwesenheit Außerirdischer verweisen und eine ganze Region in Aufruhr versetzen; plötzlich allerorts auftauchende Hakenkreuze, die auf andere, finstere und den nur scheinbaren Dorffrieden bedrohende Mächte verweisen: das sind nur einige der zahlreichen Nebelkerzen, die Brandt in seinem oberirdisch arrangierten Purgatorium erfolgreich zündet. So leitet Brandt den Blick des Lesers weg aus den routinierten und vorherbestimmten Abläufen des Jerichoer Alltags in andere, verschwommene Sphären. Dort lauert und dräut ein anderes Grauen.

Wie es der 37-Jährige dabei vermag, seine Geschichte einer Handvoll Charaktere ebenso vielschichtig wie vielarmig über Hunderte von Seiten hinweg voranzutreiben, ohne den Leser zu langweilen, das ist famos – und lässt auf mehr aus der Feder dieses manischen Realisten hoffen. Denn ähnlich den Romanen des von ihm verehrten Amerikaners Denis Johnson, der die Phantasmagorien des Westens in Epen von exorzistischer Schärfe immer neu in ihrer ganzen Scheinhaftigkeit entlarvt, vermag es Brandt, den Schleier eines zunächst ungetrübten jugendlichen Glücks auf kunstvolle Weise über alles zu breiten – und dann zu zerreißen.

So folgt man seinen ins Rennen um die Zukunft geschickten Protagonisten Onno, Rainer, Stefan und Daniel wie mit angehaltenem Atem durch ihre Abenteuer, deren Ausgänge indes, so will es ihr Schöpfer, scheinbar vorgezeichnet sind. Denn wie heißt es an einer Stelle des Romans diesbezüglich: „Keiner von ihnen war je imstande gewesen nachzugeben. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht wäre Rainer nicht mit dem Wagen verunglückt, und Onno hätte sich nicht umgebracht, und Stefan wäre normal geblieben.“ Doch wie von ihren Reflexen ins tödlich flackernde Kerzenlicht geleitete Nachtfalter rennen Brandts Figuren an gegen die Welt: ebenso geblendet und nicht bereit, sich zu bescheiden in ihren Träumen, Visionen, Glücksvorstellungen.

Soeben ist im Aufbau Verlag der neue Roman von Peter Henning erschienen. „Leichtes Beben“ erzählt lakonisch, in klug verknüpften Geschichten von großen Sehnsüchten und der Suche nach dem Glück.

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