Der Traum vom Makellosen

Als Kind hatte man ja oft lästige Verpflichtungen, die einem das Erwachsenendasein erspart. So musste ich in einem Sommer zwei Wochen als Gefangener eines katholischen Jugendzeltlagers verbringen, Joachim Witts „Goldenen Reiter“ hören, aus der „Mundorgel“ Rod Stewarts „Sailing“ – jawohl: zur Klampfe am Lagerfeuer nachsingen und Messwein trinken. Nach der letzten Nacht auf der Iso-Matte neben einem Ameisenhaufen kam mein Vater mit dem Auto, um mich von der Kontaktsperre zu befreien. Nun erst hörte ich, dass John McEnroe das Wimbledon-Endspiel gegen Jimmy Connors gewonnen hatte. Um ein solches Ereignis zu begreifen, muss man das Spiel natürlich gesehen haben. Nur ein paar Jahre später siegte Boris Becker im Endspiel von Wimbledon gegen Kevin Curren – der Name Curren wirkt heute noch viel surrealer als der Umstand, dass der grobmotorische Jugendliche gegen den zähen Südafrikaner gewonnen hatte.

In den Siebzigern mochte ich einen blonden Amerikaner namens Roscoe Tanner, der auch zu den Golf-Profis gepasst hätte. Tanner war nicht so gut wie Nastase, Borg oder Connors – doch der sonnengebräunte Segler vermittelte ein Gefühl für die Leichtigkeit dieses Spiels, das scheinbar Anstrengungslose des überlegenen Dandys, der mit Eleganz und nonchalantem Auftreten einschüchtert. Der schweigende Schwede Björn Borg verkörperte dagegen das Arbeitsethos, das Sozialdemokratische und den Kampfgeist auf dem Platz, er blieb stets unheimlich und unnahbar. Jimmy „Jimbo“ Connors brachte das Unflätige, den rebellischen Geist und den Witz; John McEnroe den unbezähmbaren nackten Ehrgeiz und die Cholerik. Ivan Lendl war der Tennis-Apparatschik aus dem Osten, eine zähe Ballmaschine mit Schweißbändern um die stählernen Handgelenke. In den Achtzigern kam Becker hinzu, der Sandplatz-Gräber Mats Wilander, der kühle Schönling Stefan Edberg, der Rasta-Franzose Yannick Noah, der irre Andre Agassi und der Leidenszwerg Michael Chang.

Als dann bei allen Turnieren gefühllose Kaderschmieden-Terminatoren wie Pete Sampras, Thomas Muster oder Kevin Courier gewannen, guckte ich nicht mehr hin.

Bis Roger Federer kam. Beim Wimbledon-Turnier 2003 wollte ich mal sehen, ob nur noch Argentinier und Spanier den Rasen dominierten. Von dem Schweizer hatte ich gehört, dass er das größte Talent seit Rod Laver sei, wenn auch schon 22 Jahre alt. Der frühreife Boris Becker hatte die Maßstäbe der Entwicklung des Tennisspielers versaut. Becker haute nur drauf, doch das Filigrane braucht Reife. Roger Federer gewann Spiel um Spiel in Wimbledon und ohne Mühe das Turnier, er weinte danach hemmungslos und wirkte wie ein Bub, dem man die Abziehbildchen geklaut hatte. Der Sprecher erzählte von einem Tennis-Internat im französischsprachigen Teil der Schweiz, in dem Federer Heimweh gehabt hatte. Vor sieben Jahren.

Sieben Jahre vorher gewann Federer die Jugendmeisterschaften der Schweiz und zählte sich zu den 50 besten Jugendlichen der Welt, und das sagte er dem Journalisten Rene Stauffer. Der sah auf dem Platz einen Hysteriker, der mit sich haderte, Selbstgespräche führte, fluchte und den Schläger über den Platz schmiss. Beinahe verlor er gegen einen Unterlegenen, weil er die Bälle verschlug. Anschließend eröffnete Federer dem Reporter, er wolle eben perfekt Tennis spielen. Der 15-Jährige ahnte, dass es nicht möglich ist. Er musste seine Wut zügeln, seinen Ehrgeiz, seine Verbissenheit.

Im Jahr 2000 wollte Roger Federer bei den Olympischen Spielen in Sydney die Goldmedaille gewinnen, gelangte aber nicht ins Finale. Die Tennisspielerin Mirka Vavrinec tröstete das wackelige Genie. Mirka spielte nur passabel und gab ihre Karriere nach einer Verletzung auf, sie kümmert sich seitdem um die Seele Federers. Das ist wichtig, denn er ist ein Gemütsmensch in empfindlicher Balance. Wenn Federer auf dem Platz steht, versucht er sein Gesicht emotionsfrei aussehen zu lassen, doch in seinen Zügen liegt etwas Düsteres; die Dämonen sind nur in den Zwinger gesperrt. Alle Spieler loben Federers Fairness, seine Noblesse, seine Ratschläge. Sogar dem älteren Heißsporn Thomas Haas half er mit Hinweisen, ein Training würde er sogar mit dem Platzwart bestreiten.

Und doch: die Tränen, als er 2009 das Australien-Finale gegen Rafael Nadal verloren hatte, er, der Souverän! Nadal ist nicht zufällig ein Spanier – er ist der absolute Duellant, der Herausforderer, der Proletarier. Federer spielt graziös wie ein Schwan, Nadal wetzt und schlägt wie ein Bullterrier. Federer trägt elegante Hosen und Hemden wie Jay Gatsby, Nadal tritt im Muskelhemd an und prökelt die zu engen Shorts zwischen den Hinternbacken hervor. Federer steht nach dem Seitenwechsel sofort an der Linie, Nadal pellt sich eine Banane. Nur Nadal konnte verhindern, dass Federerden Grand Slam gewinnt, denn auf dem trägen Sand von Paris triumphierte fast immer der Arbeiter über den Künstler. Im Jahr 2008 übernahm Nadal sogar Platz 1 der Weltrangliste, doch zuletzt gelang ihm nichts mehr.

Der Kampf dieser beiden Männer beschäftigt mich in manchen Nächten und an Sonntagnachmittagen. Und die „Night Session“ bei den US Open in Flushing Meadows ist das größte, das ergreifendste Drama unserer Zeit.

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