Der Weltgeist

Aus der Warte des Weltökonomen und Geo-Politikers mit beinahe einem Jahrhundert Lebenserfahrung erscheinen die alltäglichen Beschwernisse nur als lästige Episoden. Der Raucher-Bann in Deutschland werde vorübergehen, prophezeit Helmut Schmidt, „wie die Prohibition in den Vereinigten Staaten von Amerika“ im letzten Jahrhundert. Wie der Turmbau zu Babel, die große Keilerei 333, der Dreißigjährige Krieg, das Reich von „Adolf Nazi“ wie Schmidt Hitlers Dikatur nennt -, der Kalte Krieg und die Sendung von Sandra Maischberger, in der er sich den hilflos-zerknirschten Nachfragen der sonst zuverlässig devoten Liebedienerin ausgesetzt sah. Helmut Schmidt beharrte auf der Nicht-Einmischung in die Angelegenheiten eines souveränen Staates, namentlich Chinas – Privatleute, Vereine könnten gegen Menschenrechtsverletzungen protestieren. Regierungen jedoch nicht. Und Sportler schon gar nicht. Die „jungen Menschen“, meistens noch nicht einmal 30 Jahre alt, hätten noch kein „gefestigtes Urteil“. Die Springreiter ausgenommen, die seien ja überwiegend älter. Wie auch mancher Sportschütze und Kugelstoßer, möchte man hinzufügen.

Doch Maischberger, an der Seite des Staatsmannes und von diesem keines Blickes gewürdigt, versuchte es noch einmal. Öffentliche Hinrichtungen in China seien doch wohl nicht zu akzeptieren! Aber auch hier hatte sie die Rechnung ohne den Altkanzler gemacht. Ob öffentlich, ob nicht öffentlich: „Hinrichtung ist Hinrichtung“, versetzte Schmidt lakonisch, die Schnupftabakdose im Anschlag, der Delinquent in jedem Fall tot. „Vor nicht allzu langer Zeit“ seien Verbrennungen von Hexen, „bei lebendigem Leibe“, in Europa üblich gewesen, so der Historiker, das sei „kaum 500 Jahre her“. Die Maischberger findet das ganz schön lang – aber noch länger ist es her, dass der Chinese das Schießpulver erfand. Und richten nicht auch die Vereinigten Staaten von Amerika Menschen hin? Außerdem seien die Deutschen die Letzten, die sich ein Urteil zu erlauben haben, so Schmidt immerhin sei Adolf Nazi kaum 60 Jahre her. Und die Ächtung der Todesstrafe sei keinewegs ein Gesetz („Wo steht das geschrieben?“) – allenfalls eine Absichtserklärung.

Absichten aber können sich ändern. So hatte der SPD-Ehrenvorsitzende durchaus nicht die Absicht, die deutsche Teilnahme an den Olympischen Spielen in Moskau, 1980, abzusagen. Weil aber die Verbündeten so entschieden hatten, erzählte er im Parlament irgend etwas Staatstragendes von Verantwortung und Empörung nicht die wahren Gründe, wie er heute gern zugibt. Denn die Wahrheit hätte das Volk kaum ertragen können. Und Schmidt brauchte damals den Nachrüstungsbeschluss, der ihn in der eigenen Partei unbeliebt machte.

So denkt und redet der Weltweise und Kettenraucher heute, mit 89 Jahren, bei „Beckmann“, bei „Maischberger“, in der „Zeit“, wo ihn Giovanni Di Lorenzo „auf eine Zigarettenlänge“ befragt, zum Unmut nicht weniger nicht rauchender „Zeit“-Leser. Bei Foren, Kolloquien, Symposien, in transatlantischen Clubs und bei Buchpräsentationen referiert der Kantianer immer wieder seine Maximen: Die nachgewachsenen Generationen sind nicht durch das Feuer des Krieges gegangen, das nächste Jahrtausend gehört China, die Zukunft wird noch schrecklicher, in die Tagespolitik mische ich mich nicht ein. Sogar der wahrlich nicht heitere Wolfgang Schäuble staunte wie ein Schuljunge, als Schmidt ihn in Washington nach seinem Alter fragte, um dann schlimme Kämpfe in Afrika vorherzusagen, bei denen „Hunderttausende Tutsis“ ums Leben kommen würden. „Noch schlimmer als im letzten Jahrhundert?“ fragte Schäuble konsterniert. Da gerät auch der pessimistischste Realpolitiker an seine Grenzen. Auch Schäuble gehört natürlich der nächsten, der verweichlichten Generation an. Helmut Schmidt diente sechs Jahre lang in der Wehrmacht – eine für den jungen Leutnant offenbar doch ziemlich gedehnte Zeit, denn er musste ja noch Innensenator von Hamburg und als solcher Flutfteld 1962 werden, dann Verteidigungsminister, Kanzler, Altkanzler, „Zeif‘-Herausgeber, Vortragskünstler, Weltgeist, Raucher des Jahres usw. Auch war Schmidt der einzige Sozi, den die Christdemokraten geschlossen gewählt hätten, wäre er nicht in der falschen Partei gewesen, in der er noch immer Mitglied ist.

Der Kunstfreund, der mit Leonard Bernstein musizierte, zu Hardy Krüger eine Geistesverwandtschaft empfand und sich noch heute mit dem Schriftsteller Siegfried Lenz berät, hat sich die legendäre „Schmidt-Schnauze“ im Alter ebenso bewahrt wie den Starrsinn und die Unbelehrbarkeit. „Hanseaten sind so“, informiert der Hanseat auf Nachfrage. Die Anzeige gegen ihn und seine Frau Loki, die in den Hamburger Kammerspielen geraucht hatten (nachdem ein Tisch mit Aschenbecher hingestellt worden war), interessiert ihn ebenso wenig wie das Rauchverbot in Bahn-Abteilen. Über das angestrengte Verfahren wisse er nichts, niemand habe ihn belangt.

Und, nicht wahr, es wäre auch eine Schande, wenn nun jener Sinologe einer Lappalie wegen zur Rechenschaft gezogen würde, der bereits in den Siebzigern den großen Vorsitzenden Mao getroffen hatte. Der Vernunft-Ethiker nahm erfreut zur Kenntnis, dass der Steuermann des Riesenreiches ihn gleich mit „Ich Marxist – du Kantianer“ (oder etwas ähnlich Klingendem) begrüßte. Großer Sprung hin, Kulturrevolution her – das ist der Stoff, aus dem auch Schmidts Freundschaft mit Henry Kissinger gemacht ist. Noch immer brummelt Nixons Außenminister mit Loki und Helmut in deren Langenhorner Eck-Reihenhaus. Wer in Schmidts Party-Keller der Käpt’n ist, wird später die Geschichte weisen.

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