Deutsche Qualverwandtschaften

August 1999 Goethe und Nietzsche als Kasperlepuppen für die deutsche Pop-Szene: ein Besuch in „Europas Kulturstadt“ Weimar nebst Anmerkungen zum west-östlichen Dilemma.

Das Essen, jo, sei überall gut hier, weil ja alle die Kunden halten wollen, nö. Sagt der Taxifahrer mal so, der auch weiß, wo es das beste Bier in Weimar gibt, das schon der Goethe getrunken haben soll. Anders als auf allen anderen Artikeln, die man in „Europas Kulturstadt“ kaufen kann, steht auf dem Bier vermutlich nicht „Salve“.

Den Gruß hatte der Goethe in die Türschwelle vor seinem Sommerhaus geritzt, und 200 Jahre später gibt es Fußabtreter mit der Aufschrift „Salve“ zu 40 Mark. Die „Basecaps Weimar 1999“ gibt es für 9,99 Mark das Stück, und zwar „in all colors“. Auf dem Marktplatz stehen vor allem Buden mit „Original Thüringer Bratwürsten“. Der Qualm nebelt eine Straßencombo ein, die am Rande des Platzes eine Art von Grunge spielt. Hinter den allgegenwärtigen Absperrgittern, Gerüsten und Baustellen stehen die Autos des Heimatsenders MDR, der in Weimar gleich die Zentrale aufschlagen könnte. Der Schauplätze sind ja genug, und Goethes Haus kann sich nicht wehren. Eine amerikanische Schulklasse campiert gerade krakeelend und Sandwich essend vor dem stolzen Gebäude.

Die „Weimar 1999 – Kulturstadt Europas GmbH“ hat im Goethe-Jahr jede Menge Geld zu verteilen, und an den Pop geht auch ein bisschen davon. Deshalb hat man gemeinsam mit dem Label Mastermind Music und der Hannoveraner Firma SPV ein Projekt initiiert, an dem zahlreiche Bands aus Ost & West teilgenommen haben: Wie bei einem Preisausschreiben galt es, Texte von Goethe und Nietzsche in Lieder zu gießen; „Rosebud Red – Songs Of Goethe & Nietzsche“ heißt das Doppel-Album nun etwas umständlich. Was nun der eine Denker mit dem anderen zu tun hat, bleibt freilich dunkel.

War nicht Nietzsche recht eigentlich der Anti-Goethe, der Zerstörer der bürgerlichen Ordnung und Terminator aller höheren Vernunft des „Schrebergärtners des deutschen Geistes“, wie Thomas Bernhard den Goethe zu Recht titulierte? Andererseits verbrachte Nietzsche seine letzten Jahre nach dem Zusammenbruch in Weimar, gepflegt von der schrecklichen Schwester.

Die Platte selbst ist von abenteuerlichem, aber amüsantem Zuschnitt. Der Pankow-Sänger André Herzberg, der uns Ahnungslosen immerzu als wackerer Rock’n’Roller angedient wurde, erweist sich als Dumpfbacke: Sein „Mädchen-Lied“ aus dem Geist Nietzsches enthält natürlich dessen populärsten Dummspruch – „Gehst du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht“. Dazu rockt es nach Ost-Manier. Joachim Witt reitet mit „Jetzt und ehedem“ wieder auf dem Rabulismus-Hengst und rollt und raunt, dass es zum Wiehern ist. Bürger Lars Dietrich beeumelt sich mit „Goethe, der war Dichter“, die Puhdys mühen sich an „Seelige Sehnsucht“ ab. Rasend lustig wird es bei den jungen Rappern Zentrifugal. Ganz ohne Kunstanstrengung fordern sie: „Du kannst mich Faust nennen/ Mr. Mephisto, besorg mir mal das Gretchen.“ Die eunuchenhaft tönenden Prinzen versemmeln das ohnehin schwachsinnige No.1-Gedicht „Heideröslein“. Westdeutsche Schwerdenker wie Ben Becker, Blixa Bargeld und Alexander Hacke haben die Aufgabe natürlich ernst genommen, so wie sie halt alles ernst nehmen in dieser Welt. „Ein Gleiches“ rezitiert Bargeld, und was träfe schöner zu auf das Werk dieses Dichters (nämlich Bargeld, nicht Goethe)?

Zur Pressekonferenz anlässlich eines kleinen Open-air-Festivals in der Goethestadt mit den Prinzen, Blind Passsengers und Die Art sind neben dem unvermeidlichen MDR die Lokalpresse, junge Radioleute und noch jüngere weibliche Prinzen-Groupies erschienen. Die Prinzen sind zuvörderst vertreten durch den notorischen Launebären und Schwatzkopf Sebastian Krumbiegel, dessen Solo-Platte letzthin ebenso ungekauft blieb wie das neue Prinzen-Werk. Nun muss wieder Mucke auf dem Land gemacht werden; man wappnet sich mit Selbstironie und prima flotten Sprüchen. Nach hochnotpeinlichen Schweigeminuten wenden sich die rasenden Reporter mit Fragen nach der „Aktualität“ der schöngeistigen Texte „an alle“.

Auf dem Podium sitzen auch Makarius von Die Art und einer von den Blind Passengers, und der Makarius erklärt beflissen und angestrengt, der Nietzsche passe eben besser zu ihrer Art von Musik, und überhaupt, der sei ja ein bisschen „streitbarer“ als der Goethe, wo nicht umstritten, ja „chauvinistisch“ vielleicht. Die Art haben „Vereinsamt“ mit Musik versehen, und genau das denkt man immer, wenn man Die Art hört: vereinsamt. Nietzsche jedenfalls „würde das gefallen haben können“, drechselt der Art-Anführer auf sächsisch. Nur soviel zu Nietzsche. Und ach: Auch andere Lyrik gefalle ihm, zum Beispiel der „Expressionismus“, da gebe es ja wüste Sachen, aber das führte jetzt zu weit. Der Blinde Passagier meint, Gottfried Beim passe ganz gut zu ihm.

Finden auch die anderen auf dem Podium. Schließlich schreibt man ja selbst auch Texte, obwohl, wie einer der Prinzen-Clowns bemerkt, „wir unsere Texte jetzt nicht unbedingt als Lyrik verstehen“. Die letzte Platte, das zur Frage eines Girlies, hat man auf Sizilien produziert, deshalb klingt sie so deutsch. Kein populistischer Schmarren wurde ausgelassen, Fäkalklamauk gilt den Prinzen als Höhepunkt des Humors.

Doch Prinz Krumbiegel kann auch anders: Er habe, sagt er auf Anfrage, in der Schule mal den „Faust“ lesen müssen, bloß nicht verstanden. Später habe er ihn freilich nochmals gelesen und dann „extrem – interessant“ gefunden – und, Potzblitz, „auch heute noch aktuell“, wie alle Abgeordneten auf dem Podium bestätigen. Ja, der Goethe, der war gut. Hier nennt man ihn in Abwesenheit den „Meister“, als wäre Guildo Horn am Osten vorbeigegangen.

Auch das Selbstmitleid und das Jämmerliche sind Meister aus Deutschland, und deshalb fragt Herr Krumbiegel jetzt mal, weshalb denn die „West-Bands“, die zunächst einen Beitrag zugesagt hatten, dann doch keinen geschickt hätten. Das sei doch so, assistiert ihm ein Kollege, dass die immer absagen, wenn zu viele „Ost-Bands“ mitmachen. „Glaubst du das wirklich?“, fragt ein Ossi aus dem Auditorium. „Das ist so“, so der Prinz.

Die Namen Grönemeyer und Fanta 4 werden nun genannt. Der Kulturbeauftragte von „Weimar 99“ windet sich und verweist auf den „eigenen Erfolg“ der Fanta 4, der ihnen „in die Quere gekommen“ sei. Nicht mit Krumbiegel! Auch Die Prinzen hätten ihr „Heideröslein“ zwischen Tür und Angel aufnehmen müssen, zwischen Osten und Sizilien sozusagen. Schon möglich, dass den Wessis die massierte Gegenwart der östlichen Meckerbüdel ein wenig peinlich war. Wolle Niedecken, Udo Lindenberg und Jule Neigel haben auch gar keinen Beitrag eingereicht, obwohl sie sonst doch überall drängeln, wo „Kultur“ dransteht. Schade eigentlich. Denn Goethe auf Kölsch, Goethe als Vorsitzender der Flexibelbetriebe und Jule Neigel als Christiane Vulpius (brachte Goethe die Spezereien und hielt das Bett warm) hätte man im Rahmen der wahnwitzigen Sammlung gern gehört. Der Geheimrat hätte den west-östlichen Diwan auf ein paar Seiten mit chemischen Verbindungen erklärt und am Ende Harmonie angemahnt. So aber bleiben es deutsche Qualverwandtschaften mit ewig beleidigten armen Vettern. Was Kohl zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht trennen.

Noch ernster wird es bei der Pressekonferenz in den Hallen des eilig in Weimar hingebauten Hotels Dorint, als ein Prinz das DDR-Gedenken an Buchenwald in Erinnerung ruft. Nach einem Besuch in dem ehemaligen KZ sei er „an Weimar erst mal nicht mehr so interessiert gewesen“. Weil Weimar ja nur unfassbare acht Kilometer von Buchenwald entfernt ist! Die deutsche Klassik vom Holocaust! Der Olymp von der Hölle! Und deshalb gehören beide Orte immer schön zusammengedacht, und weil die Prinzen hinter ihrem Lausbubengeblödel natürlich politisch korrekt sind wie Hans-Jochen Vogel und Ignatz Bubis zusammen, geben sie den Gemeinplatz gleich zu bedenken. Betroffenheit breitet sich aus, als wären die Prinzen nicht im Thomanerchor, sondern im FDJ-Kader ausgebildet worden.

Kultur ist jedenfalls, wenn man trotzdem lacht. Nun haben alle was ins Blaue geredet über den Meister und Nietzsche und was uns diese Texte heute noch angehen, da wird einem ganz warm ums Herz bei so viel Respekt vor den Klassizisten. Dann heiratet im klassizistischen England der Prinz Edward die Sophie Rhys-Jones, während im Schlossgarten Belvedere oberhalb Weimars das Festival beginnt.

1000 Karten etwa seien verkauft worden, zagt der Kulturbeauftragte, und offenbar keine weitere mehr bis zum Auftritt der Prinzen, die vor einem Häuflein auf der Bühne stehen und in die Dunkelheit hineinsingen. Der Matsch auf der Wiese ruiniert die Schnürschuhe. Aber keine Larmoyanz! Ein fetter, kahlgeschorener Schelm in Shorts trägt ein T-Shirt mit der rückwärtigen Aufschrift „Gott ist Krieg“ – das ist nicht von Goethe, der hatte gewisse Jenseitshoffnungen. Leider keine Thüringer Bratwurst diesmal, aber eine „Schlemmerpfanne“ und Bockwurst im Brötchen.

Die Prinzen haben ein Bummbatsch-Schlagzeug im Rücken und singen die Kleinbürger-Hymne „Ich wär‘ so gerne Millionär“, ein Lied ganz aus dem Geiste Goethes, das so geläufig ist wie die biederen Spruchweisheiten des großen Sprücheklopfers. Vorn schwenken die harten Fans die Arme, Krumbiegel ist wieder so witzig, wie er nun mal ist, und hinten gähnen die Getränkebuden.

Aber wenn man um die Ecke geht und sich im Schlosspark auf eine Bank setzt, der Brunnen plätschert und drunten die Lichter Weimars funkeln, dann spürt man es plötzlich, das Weimar-Feeling. Wie gern würde man hier lustwandeln, einherschreiten in der Natur, endlich wieder bei sich selbst und so viel vernünftiges Denken über Gott und die Welt im Kopf wie Herr Goethe, so viel Muße und Liebe und Kultur. Ja, denken wir auf dem Hügel, im Schlosspark Belvedere, die Kultur weht, wie sie will, aber sie weht nie bei einem Rock-Festival, und hinter dem Schloss säuseln die Prinzen „Du musst ein Schwein sein“, die Absperrungen werden weggetragen, die Tageskasse wird weggeschlossen, und ein Plakat kündigt für den nächsten Monat Joachim Witt und Blixa Bargeld an.

Weimar leuchtet, und der Taxifahrer fährt uns dem Licht entgegen. Dabei erläutert er die Hotelsituation. „Das Hilton hält sich, aber wir haben ja so viele. Das Dorint. Den Elefanten. Das Ibis. Den Elefanten.“ Er hat alle gesehen, denn die Hotels werden den Taxifahrern zur Eröffnung vorgeführt. Später kostet ein Zimmer allerdings 180 Mark oder so, und die Strecken in Weimar bringen immer nur 10 Mark, weshalb ein Taxifahrer eine ganze Menge herumfahren muss, um in einem Weimarer Hotel übernachten zu können. Er fährt uns zum Marktplatz, wo ein Bierzelt aufgebaut ist und Musik lärmt. Es ist eine laue Nacht, die Dorfjugend verlustiert sich in den dunklen Ecken, man riecht die Bratwürste. Eine Frau fragt durchs Autofenster: „Wissen Sie, wie ich zum Goethe-Haus komme?“

Es ist Mitternacht, und der Augenblick ist so schön, er verweilt gar nicht.

Die Story zur Story

Kultur-Projekte wie die „Kulturstadt Europas“ und musikalische Lyrik-Anthologien mit zusammengeworfenen Aphorismen und aus dem Zusammenhang gerissenen Stanzen gehören zum deutschen Subventions-Alltag. Arne Willander wollte 1999 einmal in der Kulturstadt nachschauen, was die Prinzen und andere Musiker so mit Goethe und Nietzsche machen, und reiste nach Weimar: Bei der Pressekonferenz zum Lyrik-Projekt saßen einige Vertreter der lokalen Presse und ein paar Leute von der Plattenfirma, beim abendlichen Konzert verloren sich 300 Leute im Schlosspark, außerdem regnete es. Immerhin: Im Foyer des Dorint-Hotels klimperte ein Pianist, und überall gab es Thüringer Bratwürste. Überwältigt von so viel Kultur, kaufte der Reporter am Bahnhof von Weimar gleich ein Goethe-Buch für die Rückreise.

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