DEUTSCHRAUSCH

Trotz allgemeiner Krise gelang es einigen deutschen Bands, aus eher obskuren Nischen an die Oberfläche zu tauchen. Mit erstaunlichen Erfolgen etablierten sich sperrige Außenseiter wie Rammstein und Tocotronic in den Hitparaden.

Vielleicht sind Rammstein ja doch nur die „California Dream Men“ auf deutsch. Für „Liebe Sünde“ jedenfalls, der Sex-Kaffeefahrt mit der Trutschtranse Lilo Wanders, ließ Sänger Till Lindemann neulich mal das dreckige Leder fallen, um mit einem Groupie unter die Dusche zu steigen. Anfassen war natürlich nicht, denn der Mann ist verheiratet. Er schmiedet zwar stählerne Reime über Koksrausch und Endlos-Ficks, aber seine Libido brennt dann doch nur wie ein Ofen in Eisenhüttenstadt. Also eher spärlich. Aber Projektion war ja schon immer der beste Gradmesser dafür, wieviel Pop in einer Person steckt.

Rammstein sind der pure Pop. Tocotronic dagegen sind überhaupt kein Pop. Trotzdem werden die vom „Herzeleid“ vollbreiten Volkstribune aus dem Osten und Hamburgs sehr trockene Radikal-Individualisten oft in einem Atemzug genannt Und zwar nicht deshalb, weil sie beide (Tocotronic über die Zwischeninstanz L’Age D’Or) bei Motor Music veröffentlichen, und auch nicht deshalb, weil ihnen jeglicher Respekt vor den Königsmachern der Branche abgeht – Rammstein banden den deutschen MTV-Statthalter an einen Stuhl mit Feuerwerkskörpern, Tocotronic verweigerten schon mal die Annahme eines protzigen „Viva“-Nachwuchspreises.

Zusammen genannt werden die beiden Bands vor allem, weil sie im letzten Jahr mit unglaublicher Chuzpe die deutschen Charts eroberten. Das erste Album von Rammstein war noch immer vertreten, als ihr Nachfolge-Werk „Sehnsucht“ sich auf Platz eins festsetzte. Tocotronic immerhin gingen auf Position 13 an den Start. Wer das vor zwei Jahren vorausgesagt hätte, wäre wohl ausgelacht worden.

Während damals noch von abgehalfterten Rock-Funktionären eine 40-Prozent-Quote für deutsche und deutschsprachige Produkte im Radio eingeklagt wurde, hat sich die Forderung in der Verkaufswirklichkeit von 1997 längst von allein erfüllt. Stellvertretend seien hier Nana, Sabrina Setlur oder – in bescheidenerem Maße – Die Sterne genannt. Das Problem für Wirtschaftsbosse, Kunstschaffende und andere Lobbyisten: So richtig planen läßt sich in der gegenwärtigen Situation nichts. Arbeiten Tocotronic, die mit ihrer Polaroidästhetik und Anti-Star-Haltung nicht sperriger sein könnten, relativ gewinnbringend, so kamen etwa Selig mit dem neuen Album kaum in die Top 20. Dabei verkörperte die ebenfalls aus Hamburg stammende Band jenes durch und durch kalkulierbare Rock-Ding (und Skandale werden da Verkaufs fördernd mitgenommen), von dem im letzten Jahr jeder den kommerziellen Knall erwartet hätte.

Erfolg schafft Epigonen – das macht das Beispiel Tocotronic einmal mehr deutlich. Kaum ein Major-Label verzichtete 1997 darauf, in seiner Entwicklungsabteilung an Gegenstücken basteln zu lassen. Wobei die Konkurrenz hier nicht das Geschäft belebt, sondern das Original nur um so heller strahlen läßt. Sony brachte zum Beispiel Samba an den Start, Universal Heinz aus Wien. Eine undankbare Aufgabe kommt diesen Bands zu.

Die hausgemachte Konkurrenz ist da vielversprechender. Immerhin stehen bei L’Age D’Or auch Die Aeronauten unter Vertrag – gestandene Männer, die schon seit Jahren exzellente Platten veröffentlichen. Ihr letztes Album „Jetzt Musik“ leuchtet lakonisch die Zwischentöne des Lebens aus. Die Schweizer finden kleine Worte für große Gefühle und große Melodien für kleine Glücksmomente. Da ähneln sie Tbcotronic, ohne zu kopieren. Vielleicht liegt die Zukunft in der Neuen Bescheidenheit.

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