Die Hamburger Band Tocotronic hat schon wieder eine neue Platte fertiggestellt – schöne Grüße aus dem Egoland

Dezember 1994: In einer nach Renovierung schreienden, jedoch aus Geldmangel nicht erhörten Fabriketage sitzen drei junge Männer, die zwei Omawörter evozieren: „Flegel“ und „lümmeln“. Die Flegel sind Jan, Dirk und Arne von Tocotronic, einer „neuen Hamburger Hoffhungsträger-Band“, wie der Untergrund hysterisch kräht. Und sie lümmeln sich in der Sperrmüllsitzgruppe des Hamburger Labels L´Age D´or. Gerade haben sie ihre erste Platte eingespielt, sie wird „Digital ist besser“ heißen, nur auf CD erhältlich sein (besser? nein: billiger!) und in den Medien für großes Aufsehen sorgen. Von „den deutschen Nirvana“, wird die Rede sein, von „Thomas-Bernhard-inspirierten Moll-Chords“. Von Anti-Prinzipien und „Kuschelpunk“. Ein halbes Jahr später werden Tocotronic urplötzlich eine EP veröffentlichen, auf der sie kokett all die Interpretationen ins Leere laufen lassen: „Es ist einfach Rockmusik!“ Wie immer halb bier- und halb todernst. Doch gerade, im Dezember ’94, gibt’s noch viel zu regeln vor dem Sturm (und Dosenbier von Aldi gegenüber). Die drei sind gram: Im Vorprogramm von Blumfeld auftreten – gerne, nicht aber ohne Gage. „Wenn auch nur 100 Mark, egal, aber nicht nichts.“ Schönes Motto.

März 1996: Zwischen Vertriebsleitern und PR-Spezialisten sitzen zwei deplazierte junge Menschen in der Kantine eines großen Musikkonzerns. Gutgelaunt analysieren sie einen Salat. Es sind Arne und Jan von Tocotronic. Sänger Dirk kommt alsbald hinzu und erzählt, daß soeben sein ganzes Tablett „mit Cola und allem“ kurz vor der Kasse runtergerutscht ist, Riesenschweinerei. Der Nachbartisch guckt schon geschlossen rüber. Es ist etwas peinlich.

Wenn man sonst mit deutschen Jungmusikern plaudert, die soeben ihre erste Platte bei der großen Plattenfirma veröffentlicht haben und mit glänzenden Augen von einer ! „Major-Company“ bramarbasieren, scharrt man gelangweilt mit den Füßen. „Kreativ reingeredet“ habe niemand, und alles nicht schlimm, sondern super, echt. Von Tocotronic werden solche Sätze nicht zu hören sein, denen ist das schnuppe, echt.

Tocotronics Arbeitsprinzip erscheint so simpel wie unerklärbar. Versuchen sollte man es aber. Die Musik vermeidet Klarheit, Soli sterben schnelle Tode. Schön? Laut! Es gibt auch Melodien. Ein etwaiger Werte-Kosmos wird grinsend niedergemetzelt, alles gleichgemacht. So wichtig wie Gitarrenpreise sind per Punk-Definition auch Wochenend-Depression und Kleinkünstler oder fahrradfahrende Freiburger. Das Gästeklo im Elternhaus oder halt eine, die Frau. Der Abflughafen ist variabel, Pilot und Ziel immer: ichich und mein Haß. Und wehe dem, der von Peinlichkeitsgrenzen redet. Das ist peinlich. Die Frage ihrer Generation, ob alles schon egal ist oder aber plötzlich alles wichtig, beantworten sie durch weihevolle Bekenntnisse: „Wir kommen, um uns zu beschweren“ heißt die neue Platte. Das alles ist auch komisch, natürlich. Die drei sehen aus, als kämen sie gerade vom Fußballtraining und müßten nun zur Nachhilfe, und dann singen sie niedergeschlagen „So jung kommen wir nicht mehr zusammen.“ Doch so komisch ist das auch wieder nicht, ehrlich vielleicht. „Ich fand meine Texte nie wahnsinnig witzig“, sagt Dirk.

Um noch einmal die Oma zu bemühen: Wenn diese flegelnden Lümmel musizieren, versteht man meist kein Wort des greinenden Gesangs, richtig Gitarre spielen können die ja wohl auch nicht, und mit dem Timing ist das auch so eine Sache, ihre jedenfalls nicht. Ja, Oma, so ist das: Sobald jemand „Igitt“ sagt, darf etwas existieren. Relevanz künstlerischen Schaffens wird datiert auf das Einsetzen zorniger Reaktionen derer, die Gegenstand der Betrachtung sind und gern anders gesehen würden.

Pur grüßen aus dem Abenteuerland, Tocotronic gehen ins Egoland spielen. Eine Idee, ein Spruch, ein per se bedeutungsloses Sprengsel wie „Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren“ reicht für einen Song. Wird mit Emphase zur Bedeutsamkeit emporgeschrien. Unumstößlich wehen Anklage und Euphorie des Schmerzes laut durch den Raum, und dazu gewittern Schlagzeugbaßgitarre, als gäbe es sonst nix auf der Welt Die Jugend. Drei Platten in einem Jahr: Im Laufschritt eines zum Tode Verurteilten regeln sie den Nachlaß: „Wir sind ungeduldig!“ Erstaunlich bei dem Tempo: die Kaumstagnation. Heute sitzen Tocotronic nicht nur in der Kantine eines Musikgroßkonzerns, sondern auch zwischen den Stühlen. Sie verkaufen ziemlich viele Platten, und bald noch mehr, sie haben junge, refrainbewanderte Fans, Fanpost sogar aus Japan. Andererseits fällt der Semesteranfang mitten in die Tournee. Und, die Eltern atmen auf, sie studieren weiter.

Schwer zu sagen, ob die Band an einem Scheitel- oder an einem Sattelpunkt angelangt ist. Ihre Halbwertzeit ist nicht errechenbar. „Es ist Quatsch, lange im Studio zu sein,“ sagt Arne. Lieber oft. „Ist doch gut“, spricht Dirk, „wenn Altes durch Neues ungültig wird.“ Und außerdem, feixt Jan, „vergammeln CDs auch nach 20 Jahren – hab ich gelesen“.

Tocotronic werden niemals sterben, vergammeln – hab ich geschrieben.

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