Die Kerze brennt an beiden Enden

Ist das Rock'n'Roll oder ein Fall für den Psychiater? The Vines-Sänger Craig Nicholls zeigt, wie durchlässig die Grenze ist - vor allem für eine junge Band, die so intensiv brennen muss

Es herrscht Aufruhr unter den Mitarbeitern der deutschen Plattenfirma der Vines: Was ein entspannter Restaurantbesuch mit Band, Management und internationalen Label-Vertretern hätte werden sollen, gerät zu einem gemeinsamen Wundenlecken. Denn Craig Nicholls, Sänger, Gitarrist und Alleinherrscher von The Vines, hatte einen schlechten Tag. Einen sehr schlechten Tag. Von den sechs, sieben avisierten Interviews hatte bis zum Abend nur eines stattgefunden, danach war Nicholls offenbar so labil, dass die Verantwortlichen ihn lieber ins Hotelbett schickten. Denn später geht’s live ins Radio, und da kann man nichts rausschneiden.

Die schlechte Nachricht kommt, als alle schon froh sind, richtig entschieden zu haben: Nicholls, der vorab drei Songs zur akustischen Gitarre singen und für die Sendung aufzeichnen sollte, bekam einen seiner Anfalle und beschimpfte eine Radiodame aufs Unflätigste. Schlimmeres konnte nur verhindert werden, weil das Management den Künstler schnell abführte und im Hotel unter Quarantäne stellte.

Der Rest der Vines nimmt die Nachricht gelassen. Patrick Matthews, Hamish Rosser und Ryan Griffiths beugen sich kommentarlos über ihr balinesisches Essen und genießen einen relativ ruhigen Moment – sowas gibt es im Leben der Vines halt nur, wenn Nicholls im Hotelzimmer eingeschlossen ist, und so hat die Nachricht vom jüngsten Ausfall ihres Frontmannes durchaus zwei Seiten. „Sicher ist Craig derjenige, der die Anspannung und den Stress in diese Band trägt“, sagt Bassist Patrick Matthews später, „was soll man machen? Man lebt damit“

Aus der Ferne kennt man natürlich die Geschichten vom schwierigen Nicholls, seinen Ausrastern, Aggressivitäten und psychotischen Ausfallen. Zum Beispiel die im amerikanischen „Spin Magazine“ erzählte, in der Nicholls nach dem Rauswurf aus einer Bar unter Lebensgefahr auf die viel befahrene Straße lief und sich in einem Müllcontainer verbarrikadierte. Oder die vom verpatzten Auftritt bei Jay Leno, als Nicholls während der Probe ins Schlagzeug sprang und Instrumentarium zerstörte. Oder die vom Auftritt bei David Letterman, wo er dasselbe während der Sendung tat. „How about that? Is he alright?“, fragte Letterman. „Can’t say!“, antwortet Musical Director Paul Schaffer, deutlich perplex, „Can’t say for sure.“ Werbung.

Und dann ist da natürlich jenes Bostoner Konzert, wo Nicholls und Matthews sich auf der Bühne an die Gurgel gingen – das war gegen Ende des 18monatigen Martyriums, während dessen die Vines mehrmals die Welt umrundeten und im Rahmen der vom „NME“ ausgerufenen New Rock Explosion mit all den anderen The-Bands als Sensation gefeiert wurden. Dabei waren The Vines im selben Fach wie The Strokes, The Libertines und The Hives eigentlich falsch eingeordnet: Das erste Album „Highly Erolved“ war eine eher unentschlossene Sammlung aus sehr unterschiedlichen Songs, die zu einer Hälfte Nicholls‘ Idol Kurt Cobain nachstellten und zur anderen das Heil in australisch gewendeter Psychedelik suchten. „Als der Erfolg kam, kam er natürlich viel zu schnell und viel zu brutal“, erklärt Bassist Matthews und sagt damit etwas, was alle eben genannten Bands unterschreiben würden, „aber wir hatten bei all dem Medienwahnsinn, den endlosen Reisen und den Überforderungen nicht das Gefühl, um unseren Traum betrogen worden zu sein. Wir hatten keine Ahnung, wie eine Karriere als Rockmusiker wohl abzulaufen hätte, deshalb konnten wir das, was mit uns passierte, auch nicht falsch finden.“

Neuer Tag, neues Glück: Als sich die Promoter, Manager und Tourbegleiter am nächsten Tag wiedertreffen, herrscht Zuversicht Die meisten Interviews sind ohnehin abgesagt, es bleiben das Gespräch mit der gestern versetzten Charlotte Roche sowie das mit dem Rolling Stone, und als beim Soundcheck für das abendliche Konzert alles ganz gut klappt, steigt die Laune weiter. The Vines jammen ein bisschen, versuchen ein paar Songs von dem neuen Album „Winning Days“ und machen in der kalten, charmant runtergekommenen Halle eine ganz gute Figur.

Das folgende, der Temperaturen wegen ins Innere des vor der Tür geparkten Tourbusses verlegte Gespräch indes wird eine Farce. Nicholls lallt und sagt keinen einzigen zusammenhängenden Satz, sondern rudert bloß hospitalistisch wirr mit den Armen durch die Luft. Was man ertragen könnte doch der 27-Jährige, der keinesfalls geistesabwesend ist, trägt bei all dem eine Attitüde zur Schau, die man bis zum Gegenbeweis nur als boshaft-aggressive Arroganz deuten kann. Nach drei Minuten ist Schluss.

„Ja, das stimmt: Craig kann sehr boshaft sein“, sagt Patrick Matthews ein paar Stunden später, „aber er ist nicht rachsüchtig oder grundsätzlich böse. Morgen kann das alles wieder vergessen sein.“ Der ehemalige Medizinstudent Matthews, der bei den Vines immer die Scherben seines Frontmannes zusammenkehren muss und (widerwillig) die Rolle des vernünftigen Herbergsvaters spielt, hat sich nach der Show aus dem Bus geschlichen – ein Versuch, der am Nachmittag fast zu Handgreiflichkeiten geführt hätte. Denn eine Grundregel der Vines besagt: Wenn Craig nicht spricht, haben alle zu schweigen. Also herrscht höchste Geheimhaltungsstufe, als sich Matthews in einem abseits geparkten Van zum konspirativen Mitternachtsgespräch einfindet. „Wenn Craig so ist, wie er zu dir war, versucht er nur… sein Gehirn zu beschützen. Besser kann ich das nicht sagen. Ja, sicher, ich mache mir Sorgen um ihn – wir müssen aufpassen, dass wir ihm nicht zuviel zumuten. Er kann singen und Songs schreiben. Alles andere ist für ihn oft unmöglich.“

Die betroffenen Gesichter des Vines-Managements am Nachmittag hatten Ähnliches ausgedrückt. Da war keinerlei Wut über den schwierigen Künstler zu sehen, sondern ein schlechtes Gewissen, es überhaupt so weit kommen gelassen zu haben. Aber das ist eine andere Geschichte: eine vom Musikbusiness und den Erfordernissen, eine Band kochen zu müssen, solange sie heiß ist.

„Wir sind leider noch nicht soweit, die Dinge anders zu machen und beispielsweise seltener von Zuhause weg zu sein“, gibt sich Matthews erstaunlich fatalistisch, „es wird wieder ein brutales Jahr werden, wir werden wieder an den Rand des Erträglichen gehen. Wir alle sind eigentlich eher Menschen, die ihre Ruhe haben wollen, Stubenhocker mit einem Hang zur offenen, weiten Natur. Wir spielen gern live, ja, aber alles andere ist sehr oft eine Qual. Warum wir es trotzdem machen? Weil man hofft, dass es irgendwann anders wird.“

Beim Konzert am Ende des Tages sind zumindest keine Instrumente zu Bruch gegangen. Die Vines spielten sich durch ein Set extremer Unterschiede: Der leise, oft abschweifende Psychedelic-Pop des neuen Albums steht live im noch krasseren Gegensatz zur Lärmgewalt von Grunge-Verwesern wie „Get Free“, und die Zweiteilung ist nach wie vor Beleg für die nicht voll entfaltete Identität. Nicholls ramponiert die neuen Songs in erträglichem Maß, insgesamt ein gutes, sicher nicht sensationelles Konzert einer guten, aber nicht sensationellen Band. Man ertappt sich bei dem Wunsch, The Vines wären nie einberufen worden in die Garde der New-Rock-Revolutionäre. So aber liegt die Beweislast voll bei Nicholls, Matthews, Rosser und Griffiths – ein Beweis, die die Australier nur schwer werden erbringen können.

Später, bei der Abschrift des absurden Kurzgesprächs mit Craig Nicholls, lässt sich dann doch noch zumindest ein sinnvoller Satz aus den Wortfetzen zusammenbauen, der ein kleines bisschen Licht ins Innere des Vines-Sängers wirft. „Es war extrem aufregend für uns, diese neuen Songs aufzunehmen und endlich wieder an unseren Ausgangspunkt zurückzukehren. Unsere Musik. Unsere Wbrte. Unsere Sounds. Unser Schweben.“ Dann ist wieder Dunkelheit.

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