Die Nummer für alle Notfälle

Am Telefon kann man alles verkaufen. Wenn die Nummer zu teuer (und kurz) ist, sogar Sex. Warum dann nicht auch ein Plattenlabel? Dachte sich David Seitz, nachdem er mit den Demos von den Five Chinese Brothers und Hugh Blumenfeld bei potentiellen Vertriebspartnern abgeblitzt war. „Das hätte schon das Aus sein können“, erinnert sich der 31jährige New Yorker. „Aber es mußte doch einen Weg geben, um diese Musik zu veröffentlichen! Und dann kam mir die Idee mit der 1-800-Nummer.“

Inzwischen, über drei Jahre nach dem Geistesblitz, hat Seitz nicht nur daheim, sondern auch in Deutschland einen „regulären“ Vertrieb (TIS) gefunden. 1-800-Prime gehört mit seiner Mischung aus bewegten Frauen (Susan McKeown, Mindy Jostyn), zynischen Songwritern (Nate Ouderkirk), Alt-Folkies (Aztec Two-Step) und Roots-Rockern (Boneheads) zu den Kaderschmieden des guten Americana-Songs. Selbst der Billboard hofierte Seitz unlängst auf der Titelseite.

Der nämlich profitiert inzwischen von einer Folk-Renaissance mit beträchtlicher Bandbreite: Während die traditionelle „Grammy“-Gewinnerin Alison Kraus (JNow That I’ve Found You: A CoUection „) plötzlich für Platin-Umsätze gut war, kletterte auch eine radikale selfmade woman wie Ani DiFranco mit ihrem letzten Album JDilate“n die Top 100 der US-Charts. „Die Leute ab 30“, versucht Seitz eine Erklärung, „wurden von der Industrie schon für tot erklärt Doch es gibt da draußen viele, die nicht ,Classic Rock‘ hören wollen.“

Eine wichtige Rolle spiele auch das Internet Seitz: „Es gibt plötzlich mehr Informationen über Musik, von der man sonst nichts wüßte, weil sie in den Medien kaum stattfindet Selbst da hat uns die 1-800-Nummer als Marketing- und Promotioninstrument sehr geholfen.“

Dabei hatte es vorübergehend so ausgesehen, als sei David Seitz für die Plattenindustrie bereits verloren. Frustiert von einem A&R-Engagement in der Klassiksparte von RCA, wo er von heute auf morgen einem Chef berichten mußte, der vorher Mietautos verkauft hatte, nahm er ein Medizinstudium auf. Noch heute praktiziert Seitz 20 Stunden pro Woche als Internist und sichert so den Lebensunterhalt, während fürs Label locker das Doppelte an Zeit draufgeht, sämtliche Erlöse daraus aber gleich wieder in 1-800-Prime zurückfließen. Doch die Club-Szene im New Yorker Greenwich Village ließ Seitz trotz Studiums nicht los. Schon bald produzierte er in seinem kleinen Heimstudio die ersten Musiker – allerdings mit einem Anspruch, der den klassisch geschulten Hörer verrät „Oft haben Songwriter ja einen schlechten Ruf, weil ihre Platten so unprofessionell klingen. Ich wollte sie mit der akustischen Qualität von Klassik-Aufnahmen präsentieren.“ Dabei half ihm nicht nur altes Equipment von Paul Mc-Cartney und Judy Collins: Erstklassige Session-Musiker, die schon für Dylan, Steely Dan und Suzanne fega tätig waren, gaben Seite gern einen Preisnachlaß, weil sie begeistert von den Demos seiner Schützlinge waren. Nur wenige Folkies seien „wirklich gut“, aber die „sollen dann die besten Musiker kriegen“.

A&R-Entscheidungen bei 1-800-Prime sind keine einsamen: Die sieben Label-Angestellten urteilen mit. „Es hat keinen Sinn, wenn ich jemanden unter Vertrag nehme, den alle anderen hassen“, lacht Seitz. Die Konsequenz wäre nur mangelndes Engagement für Künstler und Platte. Zwar schreit ein eher gesättigter Singer/Songwriter-Markt speziell in Deutschland nicht gerade nach neuen Attraktionen. Doch David Seitz ist optimistisch, zumal die Five Chinese Brothers bereits eine Live-Reputation besitzen.

Seinen Beruf als Mediziner wird Seitz aber trotzdem kaum aufgeben. Sonst wäre ja auch das Büro, das seine Existenz einer nackten Nummer verdankt, selbst um eine Nummer ärmer. Um den Hauswitz von Seitz nämlich: „Die beste Krankenversicherung meiner Angestellten bin ich.“

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