Die Partitur der Literatur

In der Scheibenwelt von Terry Pratchett musste sich Stimmvirtuose Rufus Beck erst zurechtfinden, doch der surreale Rock'n'Roll-Roman "Rollende Steine" wird dank seiner Interpretation erst richtig wild

Nicht Eingeweihte können sich schnell verirren in der Scheibenwelt des Terry Pratchett. In den bisher 36 „Discworld“-Romanen des Engländers wimmelt es nur so vor Trollen, Elfen und Zwergen, sie leben in Orten mit Namen wie Ankh-Morpork, und der vielleicht coolste Typ ist ausgerechnet der Tod. Seit 1983 entwirft Pratchett dieses irre Universum, er parodiert geschickt Motive aus Science Fiction und Fantasy, ohne sich richtig von ihnen zu distanzieren, und immer wieder spielt er dabei auch mit Klischees, die Freunden von Rockmusik allzu vertraut sein müssten. Am stimmigsten kommen all diese Komponenten in „Soul Music“ von 1994 zusammen, zu deutsch: „Rollende Steine“.

Für die „Talking Books“ hat Rufus Beck diesen Kosmos durchforscht – keine leichte Aufgabe für den berühmtesten deutschen Hörbuch-Sprecher. „Am Anfang konnte ich diese Scheibenwelt gar nicht einordnen. Vor den ‚Rollenden Steinen‘ hatte ich ja schon Pratchetts ‚Nomen-Trilogie‘ aufgenommen, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Da brauchte ich schon Hilfestellung- einen, der mir die Hintergründe zu den Figuren erklärt. Pratchett ist ja ein Vielschreiber, jedes Jahr zwei Bücher. Da braucht man jemanden, der sich auskennt.“ Er fand einen Experten in Hörbuchverleger Thomas Krüger, der ihm manche Sprünge und Auslassungen des Autors erläuterte. Gewisse „weiße Flecken“ blieben, aber Beck liebt die Interpretation und Improvisation, das Spiel mit dem Stoff. „Ich nehme grundsätzlich nur Texte an, bei denen ich etwas assoziieren kann, zu denen ich eine Idee habe. Ich setze mich ja nicht ins Studio mit Texten, die mir nichts sagen, und lasse mich dafür bezahlen. Die müssen mich schon interessieren, dann finde ich auch einen Zugang.“

Bei „Rollende Steine“ ging das vor allem über die Musik. Beck kommt zwar vom Jazz, konnte sich aber problemlos in Pratchetts Rock’n’Roll-Satire einfinden. „Bei dem Roman merkt man sofort, was Pratchett mag und was nicht-mit Punk kann er gar nichts anfangen, die kriegen richtig auf die Mütze. Selbst wenn man das Genre nicht so kennt, ist das unglaublich komisch, weil die Jungs ja im Grunde nichts anderes machen als permanentes Marketing – geben sich neue Namen, trennen sich, kaum dass das Plakat fertig ist, und können ja eigentlich gar nichts. Andererseits kommt auch die Urform des Rock’n’Roll vor: Da haut so ein Troll dauernd auf ein paar Steine und entdeckt dabei das Schlagzeug…“ Nebenbei geht es um Festivals und Motorräder, um die Magie von Tod und Saiteninstrumenten, um Image und Heldenverehrung. Beck spricht die Rollen mit so vielen verschiedenen Stimmlagen und Facetten, dass einem schummrig wird. Und zwischendurch dachte er sogar darüber nach, ob er zwischen den Kapiteln noch berühmte Gitarren-Soli mit dem Mund nachmachen sollte. Er kann das, wie ein schnell improvisierter Hendrix verdeutlicht. Aber dann blieb es doch bei echten Instrumenten.

Nichtsdestotrotz zeigt die Art, wie leidenschaftlich Rufus Beck von all seinen Ideen spricht, wie sehr er selbst in diesen Rollen aufgeht – und diese Begeisterung will er auch bei den Hörern hervorrufen: „Bei einem guten Hörbuch sieht man etwas. Man wird verführt, es regt die Fantasie an. Sie bekommen quasi nur die Noten gestellt, die Musik machen Sie selbst. Die Bilder kann man nur aus sich selbst herausholen, aus den eigenen Erfahrungen und dem Unterbewussten. Man bekommt nicht, wie bei einem Film, etwas vorgesetzt, das man nur noch ausmalen muss. Und das Hörbuch hat noch einen Vorteil: Selbst liest man oft schnell über Beschreibungen hinweg, und man hat selten einen Klang im Ohr. Aber der ist ganz entscheidend! Hörbücher sind im Grunde genommen literarische Musik.“

Damit das Resultat tatsächlich eine Bilderwelt heraufbeschwört, braucht es natürlich eine geeignete Stimme. Es ist kein Zufall, dass Rufus Beck es – nicht nur dank seiner Vertonung der „Harry Potter“-Romane – zum bekanntesten Sprecher der Republik gebracht hat. Er bringt günstige Voraussetzungen mit: „Man hört wohl gern angenehmen Mittel-Lagen zu, nicht zu bassig und nicht zu hoch. Ich habe keine typischen Charakteristika in der Stimme – nichts Heiseres oder ein bestimmtes Timbre oder Manierismen. Das Besondere ist eher die Dynamik und Vielfalt.“ Und er weiß diese naturgegebenen Vorteile einzusetzen. Ein Schauspieler sollte man sein, sagt Beck, weil man als Sprecher nicht nur eine geschulte Stimme braucht, sondern auch wissen muss, wie man Rollen gestaltet. „Jedes Buch ist ja aus einer bestimmten Haltung heraus geschrieben, es gibt nie eine völlig objektive Erzählweise. Man muss also einen Text interpretieren, wie eine Rolle – und das lernt man als Schauspieler. Man hat mehr Handwerk zur Verfügung. Es gibt ja eine über die einzelnen Wörter hinausgehende Bedeutungsebene beim Hörbuch. Wie wir Ironie ausdrücken, durch den Tonfall oder den Rhythmus. Wie wir eine Melodie hineinbringen, wann wir eine Pause setzen.“

Offensichtlich fällt es Beck leicht, sich auf verschiedene Stoffe einzustellen, er muss sich nicht wochenlang akribisch vorbereiten. „Ich arbeite viel mit Rhythmusgefühl, dem Gefühl für Intonation und Pausen, für die Strukturierung. Ich mache mir viele Gedanken, aber ich übe nicht. Ich lese einen Text auch nur ein-, maximal zweimal. Als erstes frage ich mich immer: Welche Assoziationen habe ich dabei? Manchmal setze ich das mit einem Musikstück gleich: Was für eine Musik wäre das, wenn es Noten statt Wörter wären? Wie würde es klingen? Sind es verschiedene Stücke oder verschiedene Sätze einer Symphonie? Welche Themen variieren oder wiederholen sich, welche Stimmen kommen vor?“

Erst muss er sich über die Grundstimmung im Klaren werden, dann über das Wesen der einzelnen Figuren. Danach überlegt er sich die Mittel, mit denen er arbeiten kann. Und dann beginnt der eigentliche Spaß. „Im Studio ist es ein bisschen wie beim Jazz: Man kennt die Rhythmuswechsel, man weiß, in welchem Tempo man spielt, man hat etwas Erfahrung – und kann dann loslegen.“ Eine gewisse Ironie des Schicksals muss man schon darin sehen, dass ausgerechnet einer wie Beck mit einem so markanten Gesicht als Stimme fast noch bekannter ist denn als Schauspieler. Doch die Rollen, die er für Hörbücher spielt, kann er sich selbst suchen, zum großen Teil auch selbst umsetzen-und ist nicht auf die Willkür von Regisseuren oder Produzenten angewiesen.

Über mangelnde Aufträge kann sich der Sprechmeister beileibe nicht beklagen. Der Hörbuchmarkt wächst immer noch. Beck führt das gern auf die „iPodisierung der Menschheit“ zurück, durch die alle ihr eigenes Universum, ihr Archiv mit sich herumtragen können. Jederzeit kann man so in neue Bücher hineinschnuppern und sie dann weitergeben, kann sich in Bus und Bahn etwas erzählen – und im besten Fall von der Leidenschaft des Erzählers anstecken lassen. Und ein bisschen Bequemlichkeit trägt möglicherweise auch zum Hörbuch-Boom bei, gesteht er ein: „Ein Buch richtig zu lesen ist ein viel größerer Arbeitsaufwand, als ein Buch zu hören. Dafür braucht es die Bereitschaft zur Ruhe. Beim Lesen gibt es keine Action, es gibt nur Sie. Sie müssen sich diese Stimmung vorstellen, das ist wie die Arbeit an einer Partitur. Sie müssen es zum Klingen bringen, sonst rauscht es an Ihnen vorbei. Das Buch ist die Partitur, das Hörbuch die Interpretation. Man kann nicht sagen, was besser oder schlechter ist. Es sind einfach unterschiedliche Medien.“

Beck hat selbst „jede Generation von iPod“ zu Hause und hört viele Bücher. Zum privaten Lesen bleibt ihm indes kaum noch Zeit, es gibt so viel zu tun. Doch die stetig steigende Nachfrage führt auch zu den üblichen Problemen beim Angebot. Beck sieht schon die Gefahr, dass der Hörbuchmarkt mit Billigprodukten überschwemmt wird, die mit mittelmäßigen Sprechern arbeiten, die zudem noch schlecht aufgenommen werden. Und immer wieder ärgert er sich, wie schlecht der Handel sortiert ist – manchmal nach Autoren, oft ohne jedes System, jedenfalls nie nach Sprechern. „Das ist wie Wilder Westen. Eigentlich müssten Hörbücher wie Platten beworben und ins Regal gestellt werden. Manchmal wird zwar auch nur mit berühmten Namen gelockt, denen das Talent fehlt. Trotzdem: Oft geht unter, wie wichtig Interpreten sind.“

Dass viele Hörbuch-Freunde erst über den Interpreten zum Autor kommen, erlebt Beck immer häufiger. Und das ist ja auch eine schöne Zukunftsvision: Wie viele kleine „Harry Potter“-Fans nachschauen, was dieser Rufus Beck eigentlich noch so gemacht hat und dann Jules Verne, John Irving oder eben Terry Pratchett kaufen. Da hat sich doch alle Mühe gelohnt.

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