Die poetischen Freibeuter

Schon Jahre bevor Henry Ellis Meloy auf die Welt kam, wühlte sich sein Papa ungeduldig durch die Kinderbuchabteilungen von Portlands Kaufhäusern. Um dort dann so wundersame Geschichten hervor zu kramen, wie die von dem Mann, der eine Frau heiratet, die in Wahrheit ein Kranich ist und die für immer davonfliegt, als ihr Mann hinter ihr Geheimnis kommt. „Ich liebe traurige Märchen wie dieses“, sagt Colin Meloy, „und als ich es entdeckte, fand ich, dass man daraus bestimmt ein paar schöne Songs machen könnte.“ Weil der Sänger und Songwriter der Decemberists inzwischen sogar eine ganze Platte nach der bittersüßen japanischen Parabel über die Vergänglichkeit des Glücks benannt hat, sitzt er nun mit Jetlag und Schlagzeuger John Moen in einer Kölner Hotelsuite, um das Album „The Crane Wife“ vorzustellen, statt bei seinem Sohn zu sein.

Henry, der Ende Februar ein Jahr alt wird, hat sowieso nicht viel davon, dass sein Papa und dessen schräge Kapelle außerordentlich Fantasie begabte Märchenonkel sind, Abenteurer, denen man nur zu gerne glaubt, dass sie die Welt in Fesselballons oder Piratenschiffen erkunden. Denn kindgerechte Gute-Nacht-Geschichten tragen die einem auf dem neuen Decemberists-Album wieder keine vor, sondern singen Lieder, die oft grausiger sind als die grimmsten Grimm-Märchen, aber auch romantisch. Sehnsucht und Trauer, Mord und Totschlag lauerten schon immer in den verwunschenen Liedwelten der Decemberists. „Diese Platte ist aber auf jeden Fall düsterer als alles, was wir vorher gemacht haben“, sagt Meloy.

Und es ist das bislang ambitionierteste Werk der poetischen Freibeuter. Hatte sich das fabelhafte „Picaresque“ (2005) vor allem um eine stilistische Verfeinerung des Indie-Folk der Decemberists bemühte, hat die Band jetzt neue Ansätze, Sounds und Instrumentierungen ausprobiert. Während der Vorgänger in einer Kirche entstand, machte man es sich diesmal in einem richtigen Studio gemütlich. „Es war eine unbeschwerte Zeit ohne Sorgen und ohne die Verpflichtung, andauernd auf die Uhr schauen zu müssen“, sagt Moen. Denn fürs nötige Kleingeld sorgte der Wechsel vom Indie-Label Kill Rock Stars zum Major Capitol. „Ohne diesen Deal hätten wir zwar ziemlich genau die gleiche Platte gemacht“, behauptet Meloy, „sie hätte aber nicht so gut geklungen.“ Und Moen springt ihm zur Seite: „Wir haben eigentlich erwartet, dass einige Fans nicht besonders begeistert über den Wechsel der Plattenfirma wären. Aber so schlimm waren die Reaktionen dann doch nicht.“

Stattdessen hat das National Public Radio in Washington, D. C. das Album, das in den USA schon im Oktober letzten Jahres erschienen ist, gleich zur besten Platte des Jahres 2006, die Zeitschrift „The Magazine“ die Decemberists zur Band des Jahres und George Clooney sie zu seiner Lieblingsband erklärt – und ihnen einen Auftritt in David Lettermans „Late Show“ verschafft. In einem Gitarrensolo-Duell, das den komödiantischen Krieg beendete, den Colin Meloy dem US-Komiker Stephen Colbert erklärt hatte, unterlag Decemberists-Gitarrist Chris Funk allerdings gerade in der TV-Show „The Colbert Report“ Peter Frampton, der für den Gastgeber eingesprungen war.

So knapp, aber höflich Colin Meloy stets Fragen beantwortet, so sehr liebt er als Songwriter die epische Breite, kriegt zwischen Seemannsliedern und Moritaten, zwischen Folklore, Rock und Popmelodien noch Shakespeare- und Homer-Zitate unter, vermengt überaus belesen Historisches, Literarisches und Sagenhaftes, ergötzt sich am Pittoresken und schweift gerne aus und ab. Das Märchen von der Kranichfrau dauert 16, das von Vergewaltigung und Kindsmord erzählende Balladenepos „The Island“ 13 Minuten. Meloy sieht sich damit in der Tradition von Pentangle und Steeleye Span: „Bei Folksongs, vor allem bei den alten Child Ballads, ist es ja definitiv okay, die Zehn-Minuten-Grenze zu durchbrechen.“

22 Songs hatte Meloy mit ins Studio gebracht. 20 von ihnen waren noch Rohfassungen, an zwei – „O Valenica!“ und „Summersong“ – hatte sich die Band schon bei den Proben für die „Picaresque“-Tour ran gemacht. Und fast hätten sich die Decemberists dazu verführen lassen, alle 22 Songs und damit ein Doppelalbum aufzunehmen. „Aber Doppelalben sind ziemlich tückisch, enthalten oft viel zu viele Redundanzen“, meint Meloy. Das einzige wirklich gute Doppelalbum, auf das sich er und Moen auf die Schnelle einigen können, ist „Tusk“ von Fleetwood Mac. Weil Meloy glaubt, dass viele Doppel-LPs als einzelnes Album besser gewesen wären — als Beispiel fällt ihm da Wilcos „Being There“ ein -, schafften es darum doch nur zehn Songs auf „The Crane Wife“. „Die restlichen werden sich wohl einfach in Luft auflösen“, sagt Meloy, ohne ihnen wirklich nach zu trauern.

Schließlich hat er Besseres zu tun. So arbeitet er gerade etwa daran, einmal ein eigenes Werk in Portlands Buchläden hervorkramen zu können. Mit seiner Langzeitfreundin, der Künstlerin Carson Ellis, die er schon seit College-Zeiten kennt und die die herrlichen Decemberists-Cover gestaltet, zieht er nicht nur den kleinen Henry auf, sondern gestaltet auch ein Kinderbuch. Morbide Gruselballaden wie den „The Crane Wife“-Song „The Shankill Butchers“, der verschwörerisch Struwwelpeter-Pädagogik nachahmt, wird man darin jedoch vergeblich suchen: „Das würde doch sowieso kein Verlag auf der Welt drucken“, sagt Meloy. Stattdessen soll das Buch von einer sprechenden Katze in den 20er Jahren in Montana handeln. Über den Veröffentlichungstermin macht er sich allerdings keine Illusionen: „Wahrscheinlich kommt das Buch erst raus, wenn Henry es bereits selbst lesen kann.“

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