Die Welt ist eine Google

Januar 2010 Internet, E-Mails, Apps – trotzdem fühlte sich unser Autor ans Mittelalter erinnert: Die Welt ist so flach wie der Bildschirm, auf den wir starren. Und was sich nicht auf der Bedienungsoberfläche abbilden lässt, existiert nicht.

Das Leben hält die Dinge nicht fest, die sich verändern. Es notiert sie nicht einmal. Insofern sind die Linien, die wir über die Jahre hinweg ins Heute ziehen, von dem Punkt aus, den wir als Vergangenheit fixieren und dann mit uns, mit der Gegenwart verbinden, stets nur unsere Fluchtlinien, unsere Hilfskonstruktionen, unsere eigenen Schatten. Der Versuch, etwas sichtbar werden zu lassen, führt im besten Fall zum (Er)Finden einer (weiteren) Analogie, die uns helfen soll, die „verlorene Zeit wiederzufinden“. Es handelt sich stets um eine Art perspektivische Verkürzung des Verstandes, die die vom im Nebel des Vergangenen verschwindenden Damals ins Heute führt; Notenlinien, die nur dazu dienen, die einzelnen Töne zu einer Melodie zu verbinden. Doch die Linien, die wir zeichnen, könnten wir genauso gut auch wieder ausradieren, sie endlos weiter korrigieren, nicht zuletzt, weil wir unsicher geworden sind, ob die Verbindungen „wirklich“ stimmen. Also zeichnen wir sie wieder neu. Wir können eine Melodie einfach umkehren, ihre Tonart verändern, ihren Rhythmus, alles. Die Frage ist nur, wann die Melodie aufhört, diese eine Melodie zu sein, die mal gespielt wurde.

Natürlich gibt es für alle, die Linien zeichnen wollen, einige große, unübersehbare Markierungen, die in der Piste des Lebens stecken. Die großen Weltereignisse sind die Bookmarks der Zeit. In die Jahre 2001 bis 2003 (während dieser Zeit habe ich das ARD-„Morgenmagazin“ moderiert) fallen einige dieser Ereignisse. Diese Zeit zu verstehen, all die Veränderungen wahrzunehmen und zu analysieren, war für mich in journalistischer Hinsicht nicht nur besonders bewegend, sondern auch eine große Herausforderung. Ich weiß noch genau, wie ich am 11. September 2001 früher aus dem Sender zurück ins Hotel gehen wollte, aber aus irgendeinem Grund noch blieb und noch einmal den Fernseher anstellte. Es herrschte eine seltsame Stimmung auf dem Gang. Von diesem Moment an war alles anders.

Ich glaube, dass das, was sich seither geändert hat, vor allem damit zu tun hat, dass wir, dass die Weltbevölkerung insgesamt klarer „weiß“, dass unser Leben in jedem Moment wieder von einer Krise getroffen werden kann. Solch eine Krise kann von einem unbekannten Ort ausgehen, irgendwo in Afrika oder Asien – oder von den Büros in der Seventh Avenue in New York, in denen es einige Banker der Lehman Brothers Inc. dann doch überzogen haben, so lange, bis weltweit die Finanzwelt erzitterte. Dass das Bewusstsein, wie wacklig alles sein kann, durchaus positive Seiten hat, steht außer Zweifel – denn ohne diesen Stachel im Geist und das Unbehagen, das sich damit verbindet, würde kaum einer von uns damit beginnen, weniger Fleisch zu essen, Öko-Autos zu fahren und eine Entwicklung wie den menschenbedingten Klimawandel aufzuhalten.

Dennoch bleibt das Erlebnis der Entfernung von den Dingen, vom heißen Epizentrum, dem Puls der Veränderungen wie auch die Wahrnehmung der Geschwindigkeit der Veränderungen in hohem Maße subjektiv. Eine der Entwicklungen, die meinen Alltag inzwischen unhintergehbar prägen, ist das Internet. Mit dem Zu wachs an elektronischer Post ist nicht nur der Zeitaufwand, den das Lesen und Beantworten der etwa 100 Mails pro Tag verschlingt, enorm gestiegen (längst hat man ja mehrere Postfächer), sondern auch der Anspruch von Kollegen und völlig fremden Menschen, die über Mails mit einem in Verbindung treten, ist gewachsen. Sie alle erwarten schnelle Antworten rund um die Uhr. Dass dann trotz der rasanten Veränderungen am Ende vieles lange dauert, beruhigt mich ein wenig.

In Verbindung mit dem Internet und der sonstigen Reizüberflutung, die Stille zu einem (notwendigen) „Luxus“ macht, ergibt sich das seltsame Bild, dass der immense, zuweilen verstörende, in keiner Weise vom Einzelnen mehr einzuholende Zuwachs an verfügbaren Informationen und Austausch zu zunehmenden Orientierungsproblemen führt.

Dem Meer an Wissen entspricht eine Wüste der Orientierung. Wir wissen vieles – aber wissen nicht mehr, was das, was wir wissen (und wichtiger noch: all das, was wir permanent nicht wissen, wie sehr wir uns auch anstrengen mögen), bedeutet. Im Grunde ist es wie im Mittelalter: Unsere Welt ist so flach wie die Mattscheibe oder der nächste Computerbildschirm, auf den wir starren. Was sich nicht auf der Bedienungsoberfläche eines Gerätes abbilden lässt, das existiert nicht. Natürlich protestieren die Nerds jetzt und sagen: „Wir wissen aber, dass die Welt nicht flach ist!“ Klar: Die Welt ist eine Google. Aber rettet uns das? Vor allem: Kann man die Antwort finden, indem man sich schnell mit WikiMe oder einem anderen App orientiert? Der Gegensatz zwischen Gebildet und Ungebildet wächst im gleichen Maße wie der zwischen Reich und Arm. Aber auch die Kluft zwischen denen, die sich orientieren können, und denen, die sich zunehmend verlieren, wächst täglich. Religionen und Politik versuchen auf ihre Weise davon zu profitieren.

Vermutlich wird eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft darin bestehen, die Komplexität unserer Welt besser zu begreifen. Nur wenn wir in dieser Hinsicht realistischer werden, können wir hoffen, die Welt verantwortlich zu steuern. Denn sie nicht zu steuern, nicht zu handeln, nicht von unserem (Un)Wissen Gebrauch zu machen ist längst keine Option mehr.

Gert Scobel, 50, TV-Moderator, Journalist und Buchautor, erhielt 2005 für seine Moderation der 3sat-„Kulturzeit“ den Grimme-Preis. Immer donnerstags moderiert er auf 3sat das Wissensmagazin „scobel“.

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