Die Zukunft umarmen

Mehr oder weniger zufällig ausgewählte Meldungen vom Ende eines Jahrzehnts: Am 21.9.1999 gibt David Bowie bekannt, sein neues Album „Hours“ zunächst exklusiv im Internet anbieten zu wollen – als kostenpflichtigen Download, nicht brennbar. Die erste Veröffentlichung dieser Art. Im Oktober des selben Jahres strebt die deutsche Musikwirtschaft eine Sonderabgabe auf CD-Brenner an, um entgangene Einnahmen zu kompensieren. Und im Juli 2000 wird der in den Jahren zuvor immer populärer gewordenen Tauschbörse Napster per einstweiliger Verfügung vorübergehend der Saft abgedreht.

Seit 1997 waren die Umsätze der Musikindustrie durch den Siegeszug des Internet und die massenhafte Verbreitung von CD-Brennern zurückgegangen. In einer aus den Rekordumsätzen der vorangegangen Jahre resultierenden Arroganz hatte die Industrie diese Entwicklung trotz hinreichender Warnungen nicht Ernst genommen. So verlor sie eine ganze Generation Musikbegeisterter, die mangels Alternativen auf Gratisangebote im Netz zurückgriff.

Nun schien sich etwas zu tun, doch die Bemühungen der großen Firmen zeugten meist von einer rührenden Hilflosigkeit. So waren die frühen Versuche, Napster und ähnlichen Börsen Einhalt zu gebieten, meist nichts anderes als kostenlose PR für die P2P-Netzwerker. In einer steten Verdrängung neuer Realitäten klammern sich die meisten Big Player bis heute verzweifelt an altgewohnte Modelle wie der Alkoholiker an seine Flasche. Statt endlich offen und innovativ mit den Möglichkeiten des digitalen Zeitalters umzugehen, werden Kunden immer noch kriminalisiert, wird an vorgestrigen regionalen Lizenzmodellen festgehalten, sichern sich Großkonzerne wie Universal ein immer größeres Stück vom kleiner werdenden Kuchen, indem sie mit sogenannten 360-Grad-Modellen in andere Geschäftsbereiche expandieren.

Ich begann um die Jahrtausendwende, über Musik zu schreiben. Ältere Kollegen erzählen bis heute mit leuchtenden Augen von rauschenden Champagnerempfängen und dem „Problem“, mehr Anzeigen für eine Zeitschrift zu haben, als man unterbringen kann. Ich habe all diese Dinge nicht erlebt und habe trotzdem den schönsten Job der Welt. Die wöchentlichen Abschiedsmails von irgendwelchen Leuten aus der Plattenindustrie waren von Anfang an ein zuverlässiger Begleiter – mit ihnen kriegte die Krise ein Gesicht. Einige dieser Leute eröffneten Bars oder Geschäfte, in denen sie Schokolade verkauften, andere sah man nie wieder. Die meisten aber machten sich selbstständig, und nicht wenige von ihnen entwickelten den neuen Realitäten Rechnung tragende Geschäftsmodelle. Tocotronic hatten auf „Kapitulation“ ‚über die reinigende Kraft des Eingeständnisses der eigenen Hilflosigkeit im Angesicht einer Krise geschrieben. Der Moment, in dem man das eigene Scheitern anerkennt, kann in der Tat überaus befreiend und erleichternd wirken – in jedem Fall ist er die Basis für einen wirklichen Neuanfang. In gewisser Weise kann eine Krise also gesund sein, wenn man sie mit scharfem Verstand nutzt und alte Verhaltensmuster in Frage stellt. Die Musikindustrie hat zwar im großen Maßstab bis heute nicht kapituliert vor den neuen Realitäten. Doch in der Nische entwickelte sich einiges.

Nicht zuletzt waren die Künstler gefordert, sich mit anderen Bereichen ihres Geschäfts auseinanderzusetzen, was eine begrüßenswerte Entwicklung ist. So entstand der mündige Künstler als Souverän. Immer mehr Musiker nutzten die Freiheit, die durch bezahlbare Recording-Software, Portale wie MySpace und überall aus dem Boden schießende Kleinstfirmen entlassener Profis aus allen Bereichen des Geschäfts vor ihnen lagen.

Neben den Arctic Monkeys und anderen zeigte der Erfolg einer Band wie Vampire Weekend einen weiteren Vorteil des Internet. Ihre vielfach gerühmten Afrobeat-Einflüsse verdankten die Musiker nicht etwas ausgiebigen Reisen, sondern dem Netz, das ihnen das Tor zur Welt geöffnet hatte, wie der Sänger Ezra Koenig immer wieder sagte.

Allzu sehr romantisieren sollte man die schöne neue Welt der digitalen Möglichkeiten aber nicht: Leute wie Konstantin Gropper von Get Well Soon werden ja immer gerne herangezogen für die neuen Möglichkeiten, mit bescheidenen Mitteln große Kunst am Laptop entstehen lassen zu können. Letzten Endes jedoch wollen die meisten von ihnen – einmal etabliert – genau das, was jene vor ihnen auch wollten: unter professionellen Bedingungen in einem richtigen Studio mit ausreichend Zeit an ihrer Musik arbeiten. Und sie wollen Alben aufnehmen, egal auf welchem Medium. Geht nach wie vor nur, wenn jemand die Musik kauft, wenn sich eine Plattenfirma findet, die bereit ist, das zu finanzieren.

Es wird also Zeit, den Beispielen aus der Nische zu folgen und endlich die Herausforderungen der neuen Zeit anzunehmen. Die Zukunft zu umarmen statt in Schockstarre zu verharren.

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