Disco in Disneyland – Wie der Pop-Sommer 1982 die Welt veränderte

Sie waren viel mehr als junge Chartstürmer mit schönen Melodien: Vor 25 Jahren versuchten britische Bands wie ABC, Dexys Midnight Runners, Heaven 17 und Orange Juice, mit der Aufbruchslaune des Punk eine neue Popmusik zu schaffen romantisch, politisch, bildstark und multikulturell. Zum Jubiläum erinnern sich Musiker und Augenzeugen an die Utopien und Songs eines großen Sommers.

Viele hatten sich gerühmt, man habe endlich und endgültig alle alten Säcke aus der Stadt London vertrieben, auf ihre Landsitze, Schleppkähne und südfranzösischen Grand-Hotelzimmer – aber da klingelte es eines Nachts, und einer von ihnen stand draußen, unangemeldet. Als der 21-jährige Steven Harrington, genannt Steve Strange, Mitveranstalter der wöchentlichen „Heroes‘ Night“ im Club Blitz in Covent Garden, bei der Türkontrolle im Juli 1980 plötzlich in die verschiedenfarbigen Augen von David Bowie schaute, erschrak er jedenfalls.

Nicht, weil Bowie verhasst gewesen wäre. Im Gegenteil, die Punks hatten ihn und Bryan Ferry als einzige Alte vom Verdikt ausgenommen, und für Steve Strange war Bowie der Grund gewesen, den ganzen Zauber überhaupt anzustiften. Die „Bowie Nights“ im Billy’s, zu denen jede Woche mehr Leute kamen, die sich als Nussknacker und Zinnsoldaten verkleideten, als Stummfilmfiguren, Clown-Spielzeug, russische Priesterinnen und Piraten-Vampire. Von denen man nicht sagen konnte, ob sie als besondere Vögel hier endlich eine Heimat gefunden hatten, oder ob sie sich nur deshalb so anzogen, weil es halt den Club gab. Ein eskapistischer, naiv romantischer, modegeiler kleiner Stamm, den die neue Zeitschrift „The Face“ ratlos „The Cult With No Name“ nannte, andere „New Romantics“ und noch andere, nach dem Umzug in den größeren Blitz-Club, „Blitz Kids“.

Bowie fand das natürlich alles super und fragte später in der Nacht, ob Steve Strange und ein paar andere nicht in seinem neuen Video mitspielen wollten. Am nächsten Morgen standen Strange, Judith, Darla und ein Mädchen, an dessen Namen er sich in seinen Memoiren nicht erinnert, in schwarz-klerikalem Gewand am Strand von Southend-On-Sea, mussten in einer Reihe vor einer Planierraupe herlaufen, während Bowie, natürlich als Ober-New-Romantiker im Pierrot-Silberfisch-Kostüm, „Ashes To Ashes“ sang, sein kaltes Goodbye an die 70er Jahre. Wenn die gruselige Prozession im Video voranschreitet, sieht man, wie sich Steve Strange immer wieder kurz verneigt. Es waren seine verzweifelten Versuche, die hinterherschleifende Robe vor den Rädern der Baumaschine zu retten.

Ein knappes halbes Jahr später hatte Strange sein eigenes Video, „Fade To Grey“, das seine Band Visage auf Platz acht in der britischen Hitparade und in Deutschland auf Platz eins brachte, wo es hinter

dem Ententanz und dem Beatles-Medley „Stars On 45“ die dritterfolgreichste Single des Jahres 1981 wurde. Und sogar der junge Mann, der bei Bowies Besuch im Blitz die Garderobenmarken ausgegeben hatte, bekam noch seine Chance. George O’Dowd stand im Oktober 1982 drei Wochen an der Spitze der UK-Single-Charts, mit seiner Gruppe Culture Club und dem Stück „Do You Really Want To Hurt Me?“. Da hieß er Boy George, hatte einen jüdisch-chassidischen Hut auf dem Kopf, bunte Bänder in den Haaren, und es ging erst los für ihn.

So beliebig das klingt, wenn man ausgerechnet den Sommer des Jahres 1982 als Kristallpunkt des britischen 80er-Jahre-Pop feiert, als den kritischen, besonderen Moment, in dem alle Elemente, die Avantgarde und das Banale, einen Zungenkussmoment lang im Gleichgewichtwaren und den Blick auf eine Utopie öffneten – genauso komisch kommt es vielen vor, überhaupt einen grundsätzlichen Unterschied zu machen zwischen Culture Club und beispielsweise Abba, zwischen irgendeinem neuen Pop und dem alten, der seinen Dienst in Radios und auf Kaufhaus-Wühltischen doch noch manierlich erfüllte. 40 Jahre „Summer of Love“, 30 Jahre Punk sind leichter zu fassen, aber dass 25 Jahre New Pop nicht mit Tamtam begangen werden, hat ja auch damit zu tun, dass die Bands ABC, Dexys Midnight Runners oder Haircut 100 bis heute als latent leichtgewichtig, narzisstisch, effekt-und kommerzverliebt gelten.

Wenn man dann so dahinantwortet, dass solche Vorwürfe für die meisten der jungen Musiker wohl viel mehr ein Kompliment als eine Beleidigung gewesen wären – dann hat man in sehr verkürzter, stark verzerrter Form schon erklärt, warum der britische Pop der frühen Achtziger die Welt so sehr verändern konnte. Zum Guten und zum Schlechten.

Das britische 1982 wurde von der Koloratur des schönen Schotten Billy Mackenzie begleitet, dessen Gruppe Associates übers Jahr drei nougatfeine Funk-Cafe-Drama-Hits in der BBC-Show „Top Of The Tops“ präsentierte und beim dritten Auftritt, „18 Carat Love Affair“, tatsächlich eine Schokoladengitarre an die Studiokinder verfütterte. 1982 veröffentlichte die junge Soul-Pop-Band Orange Juice aus Glasgow zwei nachhaltig grandiose LPs, erreichte aber nicht die Quote der Londoner Haircut 100, die in ähnlichem, auf Perle polierten Stil und Aufzugdrei Singles und ein Album in die Top Ten bekam. Die Technologie-romantischen Synthesizer-Schuljungen Depeche Mode hatten nach dem Abschied ihres Songautors Vince Clarke noch mehr Erfolg als vorher, während Clarke im Duo Yazoo mit der Röhr-Sängerin Alison Moyet wiederum die Ex-Kollegen überholte.

Dass diese Musik mit unglaublichem Eifer und Ehrgeiz gemacht wurde, mit einem entschiedenen ästhetischen Willen,dem nichts fernerstand als das devote Tasten nach dem Publikumsgeschmack -das ist vielleicht Interpretationssache. Nachzählen kann man, dass Autoren-Pop von derart jungen Leuten seit den 90er Jahren nicht mehr so erfolgreich gewesen war. Den gesamten, goldenen August 1982 über standen Dexys Midnight Runners mit ihrer Kelten-Soul-Fiedelei „Come On Eileen“ auf der britischen Nummer eins, die Album-Charts führte den ganzen Juli lang „The Lexicon Of Love“ von ABC an, ein Bernsteinzimmer aus echten und gefälschten Großartigkeiten, ein im Gesicht schwarz und auf dem Kopf neonblond gefärbtes Busby-Berkeley-Musical aus Sheffield.

Das Video zu ABCs „The Look Of Love“ macht besonders vieles klar. In der

Aufbruchphase des Image-Musikfernsehens waren „The Look Of Love“ und Bowies „Ashes To Ashes“ die zwei Stammzellen, in denen alles angelegt war, was für den weißen Pop je wieder wichtig werden sollte. Zwei verschiedene Antworten auf die Punk-Explosion, obwohl die Leute jadazu tendieren, seit 1977 noch den größten Mist als Antwort auf Punk zu verstehen. Womit sie wahrscheinlich sogar Recht haben.

Anders als Bowies gotisch-düstere Strandpartie blendet „The Look Of Love“ beim Zuschauen wie die Sonne – eine grellfarbige Papplandschaft mit Wiesen und Bergen, durch die ABC-Sänger Martin Fry in einer weißen Stepptänzer-Kombination hindurchmoderiert, die direkt von Dick van Dykes Kostüm im Disney-Film“Mary Poppins“ kopiert wurde. Eine Nonne fliegt vorbei, im Kasperletheater wird Fry vom Krokodil gebissen, das Lied spricht von Sehnsucht, Begehren und der Verbindlich keit von Gefühlen. Und so wie bei Bowie – der bei der Aufnahme von „The Look Of Love“ übrigens anwesend war – gab es auch im ABC-Video Gäste. Paul Morley durfte ein Mädchen küssen und „What’s that?“

fragen, der Journalist vom „New Musical Express“, der ABC Ende 1980 in seinem „New Pop“-Manifest den Erfolg vorausgesagt hatte und mit brillant vergeistigten Artikeln den Überbau lieferte, den die Musiker in Interviews schuldig bleiben mussten. Am Schluss kommt Trevor Horn ins Bild, Wunder-Produzent des „Lexicon Of Low‘-Albums. Der mit „Video Killed The Radio Star“ die MTV-Dekade prophetisch eröffnet hatte. Der bald, im Team mit niemand anderem als dem Journalisten Morley, die Gruppe Frankie Goes To Hollywood patentieren sollte und so dem neuen Pop, den er selbst mitkonzipiert hatte, den schwersten Schlag versetzte.

„Der New Pop ist nicht rebellisch. Er hat sich mit dem alten Star-System arrangiert“, schrieb 1985 Dave Rimmer, ehemaliger Reporter der Teenager-Pop-Zeitschrift „Smash Hits“. „Er verwischt die Grenzen zwischen Kunst, Geschäft und Unterhaltung. Er interessiert sich vor allem für Verkäufe, Umsätze und den Dollarkurs, und um die Sache noch schlimmer zu machen: Er hat nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei.“ Kein Missverständnis: Das war ernsthaft böse gemeint. Rimmer hatte dabei zwar die späteren Stadion-Zeiten von Culture Club und Duran Duran vor Augen, aber mit der Einstellung hätte sein Urteil im Sommer 1982 nicht viel anders geklungen.

Das Buch zum Thema nannte Dave Rimmer „Like Punk Never Happened“. Als ob es Punk nie gegeben hätte.

Exakt so fühlt sich im Sommer 2007 das Tollwood-Festival im Münchener Olympiapark an. Ein Buden-Jahrmarkt, auf dem es neben Honig und Bio-Pommes auch chinesische Kalligrafie, Kunst aus alten Verkehrsschildern und eine Handleserin gibt. Hier werden heute Orchestral Manoevres In The Dark auftreten, die Liverpooler Gruppe, wiedervereinigt, die 1982 mit der von Kraftwerk und New Romantics beeinflussten Synthie-Operette „Maid Of Orleans“ die erfolgreichste Single des Jahres in Deutschland hatte (vor David, Andy Borgund der Spider Murphy Gang). Sänger Andrew McCluskey wurde später als Hexer hinter der Mädchengruppe Atomic Kitten zwar nicht bekannt, aber reich. „Wie viele andere Bands aus meiner Generation waren wir überrascht, als wir in den späten Siebzigern merkten, dass es noch andere gab, die so wie wir waren“, sagt McCluskey – der übrigens überproportional viel intelligenter wirkt, als es einige seiner späteren Platten vermuten lassen – vor dem Konzert. „Als wir zum ersten Mal Human League und Cabaret Voltaire hörten, dachten wir: Shit, die haben die gleichen deutschen Importplatten gekauft! Alle hatten gedacht, sie wären die Einzigen, die in ihren Zimmern in Sheffield, Liverpool und London Kraftwerk, La Düsseldorf, Can und Neu! hörten.“

Im Herbst 1978 spielten McCluskey und Paul Humphries als Duo mit Kassettenrekorder ihr erstes OMD-Konzert im berühmten Liverpooler Punk-Club Eric’s. Die einfachen, im Ein-Finger-System geklopften, teils instrumentalen Elektronikstücke klangen nicht nur radikal anders als das, was die gitarrespielenden Lokalhelden The Teardrop Explodes und Echo & The Bunnymen machten, die sich selbst schon vom Punk der ersten Grundsteinlegung emanzipiert hatten. „Die sahen sich als verwunschene Poeten, während wiruns für ganz andere Sachen interessierten. Punk war uns zu aggressiv und zu wenig intelligent. Wir schrieben Lieder über Flugzeuge oder Ölraffinerien.“

Später, bei der bestens besuchten Greatest-Hits-Mitklatsch-Show im Sommerzelt, fälltdie Vorstellung allerdings schwer, dass OMDs erste, zischende, bumpernde Single „Electricity“ die Platte war, die bei Factory Records in Manchester unmittelbar vor dem Debüt album von Joy Division erschien. McCluskey hat vorher erzählt, der Factory-Cover-Designer Peter Saville habe Humphries und ihn damals höchstpersönlich zum Friseur geschickt, damit der ihnen die Hippie-Matten abschneiden sollte. Um misstrauischen Fragen aus dem Publikum vorzubeugen.

„Bei mir war es ein Unfall“, erinnert sich Vince Clarke an die erste Post-Punk-Frisur. “ Meine Schwester hatte 1977/’78 gerade ihre Friseurlehre begonnen, und eines Tages fragte ich sie blöderweise, ob sie mir nicht die Haare schneiden könne. Sie hat mich völlig entstellt, mein Kopf sah aus wie ein Golfplatz. Bevor ich am nächsten Morgen zu meiner Zivi-Stelle fuhr, ging ich zum Friseur und sagte: Alle Haare ab!“ Clarke spricht vom Erasure-Tour-Hotelzimmer in Atlanta aus – neben Depeche Mode ist er der einzige New-Pop-Typ, der heute noch mit neuen Platten nennenswertes Geld verdient. (Trotzdem stimmte sogar er, wie fast alle anderen Angefragten, einem Interview

über die Vergangenheit zu. Kevin Rowland von Dexys ließ freundlich absagen, Nick Heyward von Haircut ioo weniger freundlich.) Clarke hat eine simple Erklärung für die Feuerwerkszeit in den frühen Achtzigern. „In den 70er Jahren waren Synthesizer ja vor allem in der konzeptuellen Musik eingesetzt worden. Als es dann mit den elektronischen Popsongs losging, war das etwas vollkommen Neues. Etwas, das die Leute wirklich noch nie vorher gehört hatten. Punk war ja mehr oder weniger eine Neuauflage von Rock gewesen. Aus diesem Zyklus, der alles immer wiederbrachte, brachen die Synthie-Popper aus.“

Mit den Kategorien und Standpunkten von heute ist es kaum noch nachzuvollziehen, wie selbstverständlich und unkokett damals das schroff Experimentelle direkt neben dem kleinkinderhaft Eingängigen saß. Der Katalog des 1978 vom Ex-Filmstudenten Daniel Miller gegründeten Labels Mute listet Bandschleifenkünstler und die Popper Depeche Mode und Yazoo, The Human League aus Sheffield hatten in ihrer Frühphase als festes Mitglied einen Film- und Dia-Spezialisten in der Gruppe. Für eine Tour im Vorprogramm der Talking Heads konzipierten Human League 1980 eine Show, die völlig ohne Beteiligung der Musiker ablaufen sollte – die Band wollte währenddessen im Publikum Hände schütteln. Die Talking Heads riefen nicht mehr zurück.

,Am Anfang war die Gruppe ein Kunstprojekt, mit eigenem, festem Regelwerk“, sagt Martyn Ware, der The Human League 1978 mitgegründet hatte. „Auf den Platten von Queen stand ja immer ,No Synthesizers‘ – das fanden wir so bescheuert, dass wir natürlich sagten: ,eine Gitarren!'“ Aber die reine Freude am Konzept reichte jetzt nicht mehr. Nachdem sich die ersten zwei Alben schlecht verkauft hatten, verließ Ware mit dem zweiten Keyboarder lan Craig Marsh im Streit die Gruppe – die sich mit zwei mysteriös-blasierten Sängerinnen aufpoppte und Ende 1981 den Super-H it „Don’t You Want Me“ hatte – und startete eine neue Unternehmung: die British Electric Foundation, kurz B.E.F., die einen Vertrag mit der Plattenfirma Virgin unterschrieb. Nicht als Band, sondern als Produktionsfirma.

„Wir waren jung, wir lebten von 30 Pfund in der Woche“, erzählt Martyn Ware, „und wollten das Musikbusiness auf Post-Punk-typische Art bloßstellen und überführen. Also taten wir so, als gäbe es da ein gewaltiges Unternehmen, das in Wahrheit aus einem dreckigen Hinterzimmer in Sheffield heraus operierte. Dass die Zentrale einer derart scheinheiligen Weltfirma mitten im Arbeiter- und Sozialistenmilieu angesiedelt war, zu dem wir gehörten, fanden wir richtig lustig.“ Das erste Produkt der B.E.F. war das Album „Penthouse And Pavement“, sie nannten sich Heaven 17, spielten todesmutig adaptierte, glanzgeleckte, spaßfixierte Funk-Musik. Und machten sich mit dem Song „(We Don’t Need This) Fascist Groove Thang“

über den neuen US-Präsidenten Ronald Reagan und die britische Agit-Dub-Jazz-Band The Pop Group lustig, die den Jungen damals als Inbegriff derverkrampften Puristen galt und im „NME“ von Paul Morley „Beatnik-Faschisten“ genannt wurde.

„Die Talentsucher der Plattenkonzerne wurden damals explizit ermutigt, Künstler unter Vertrag zu nehmen, die eben nicht so klangen wie alle anderen. Keiner hatte Angst um seinen Job, es war eine Goldgräberzeit“, erklärt Ware, der heute tatsächlich eine Firma hat, die avancierte Surround-Sound-Systeme entwickelt und sogar an Disney-Vergnügungsparks verkauft. Besonders Virgin Records tat sich damals hervor, bizarrerweise, weil Mike Oldfields Hippie-Dudelei „Tubular Beils“ so viel Geld gebracht hatte. „Heute dagegen ist es den Firmen

am liebsten, wenn die Leute ihre Platten zu Hause produzieren und sie sich dann billig aussuchen können, was ihnen passt.“

Trotzdem: Hatte dieser gebürstete Popper-Pop, hatten die hühnerbrüstigen Funk-Gitarren und knautschenden Synthesizer, die großäugigen Soul-Jodeleien und romantischen Abzählreime, die Economy-Class-Anzüge von Heaven 17, die Kaschmir-Pullover und bretonischen Fischermützen von Haircut 100 wirklich etwas mit Punk zu tun?

„Punk fing als sehr smarte, Kunst-affine Bewegung an“, sagt Roddy Frame, der 198218 Jahre alt und Sänger von Aztec Camera war. „Nach anderthalb Jahren war er eine Boulevardzeitungs-Karikatur von sich selbst geworden, mit Macho-Gehabe und Lederjacken. Es war genau das, was wir immer bekämpfen wollten.“

„Die ganze Pop-Erneuerungin den Achtzigern ging von den Außenseitern aus“, sagt Paul Gorman, Mode-, Musik- und Filmjournalist aus London, Autor des Pop-Fashion-Standardwerks „The Look“. „Von den Leuten, die sogar von Punk ausgeschlossen geblieben waren. Weil sie zu jung waren, weil sie schwul waren oder in der Provinz lebten. Ein Haufen von Einzelgängern, und plötzlich schlug ihre Stunde und sie durften doch noch ihre Statements machen, visuelle, sexuelle, politische. Das verbindet all diese unterschiedlichen Typen: Sie standen abseits, sie wollten auf gar keinen Fall langweilige Punks der zweiten oder dritten Welle sein, sondern etwas völlig Neues.“

Was den politischen Tageswert betraf, waren die britische Premierministerin Thatcher – die ihr berühmtes „There’s no such thing as society“ erst 1987 sagte – und US-Präsident Reagan freilich die Ziele, auf die man sich im Dunkeln hätte einigen können. Einige Popper liefen auch bei den Demos gegen die Schließung der Druckergewerkschaft, aber gerade die frühen Achtziger waren eine Zeit, in der um ganz neue Strategien gerungen wurde: Unter dem Eindruck französischer Philosophen nahm Green Gartside den direkt agitatorischen Ansatz seiner Band Scritti Politti zurück und schrieb plötzlich Lieder über Sprachund Bewusstseinskritik, während Kevin Rowland seine Dexys Midnight Runners in Latz-Jeans steckte, keltischen Folk spielen ließ und so die irische Diaspora zum Thema machte – vorher hatte er lange Zeit alle Interviews verweigert und seine Pamphlete stattdessen als Anzeigen in die Musikmagazine gesetzt. Die jungen Autoren Diedrich Diederichsen und Andreas Banaski („Kid R“) bildeten den neuen Pop Monat für Monat in der deutschen „Sounds“ ab, in klugen, Fieber-erhitzten Artikeln, die alle, die immer noch genervt sind, als Jungfernquelle des linken Popdiskurses beschimpfen dürfen.

Der Punk-Soziologe Jon Savage dagegen erkannte im romantischen Sprengel des neuen Pop vor allem tief konservative Sehnsüchte, einen Penetranz-Erfolg des Thatcherismus. „1982 war das Jahr des hemmungslosen Nostalgie-Fetisch“, schreib er ira Januar 1983 in „The Face“. „Die Vergangenheit wird zum wertlosesten aller Konsumartikel. Und das, was wir aus ihr lernen könnten, kommt uns automatisch trivial vor.“

„Nostalgie? Die gibt es auch beim Glastonbury-Festival“, sagt Martin Fry,

leicht seufzend, ein paar Tage nach dem ABC-Auftritt bei der „Here And Now“-Eighties-Revue in Brighton. Am Anfang der Karriere waren ABC ja noch mit Flaschen beworfen worden, in Holland fragte hinterher einer der Querulanten, wie das denn ginge, dass sie offenbar Punk seien, aber wie Dtsco-Boys aussehenwürden. Den Vorwurf, mit aufgewärmtem Prunk indirekt die Regierung Thatcher zu stützen, haben ABC sich in Sheffield jedenfalls viel harte Arbeit und den Bruch vieler vom Punk angeknackster Regeln kosten lassen. „Wir wollten, dass die ganze Welt unseren Namen erfährt“, sagt Fry. „Deshalb ABC! Weil das so einfach ist!“

Die Ambition führte naturgemäß zu Interessenkonflikten zwischen den Bands. „Weil es ja nur einen Platz eins in den Charts gab! Man merkte schon, dass irgendwie alle am selben Strang zogen, aber da war ein wahnsinniger Konkurrenzgeist, und alles ging sehr schnell. Man nahm eine Platte auf, dann fragte jemand: ,Hast du die neue Scritti Politti gehört? Sie haben den und den Effekt drauf…‘ Es war fast wie das Space Race! Nur im Pop. So: Sind die Russen schon auf dem Mond? Keine Ahnung!“

Und ABC gehörten auch deshalb so definitiv zur Klasse von 1982, weil es nach dem rotglühenden Liebessommer so schnell nach unten ging. Den goldenen Anzug spülte Fry mit Bedacht in einer Hoteltoilette in Tokio hinunter – und die schönen Sachen, die sie auf der berühmten Plattenhülle anhatten? .Alle vom Verleih!“ sagt Martin Fry. „Das war doch Theater!“

Und eine Prophezeihung, ergänzt er dann noch. ,Als das Geld kam, haben wir uns wirklich in die Typen verwandelt, die wir da gespielt haben.“

In und um Glasgow erzählt man sich noch heute, dass der damals 22jährige Edwyn Collins, als er Ende 1981 zum ersten Mal die Band Haircut 100 im Fernsehen sah, mit ihren weißen Pullovern, Seitenscheiteln und auf Achselhöhe gespielten halbakustischen Gitarren, als er also merkte, dass Haircut 100 ganz offensichtlich jedes kleinste Detail ihres Auftritts bei seiner Gruppe Orange Juice abgeschaut hatten und damit in die „Top Of The Pops“-Show gekommen waren, was für Orange Juice nach drei Jahren Karriere ferner lag denn je – dass Collins da so von züngelnder Wut gepackt wurde, dass er seine Gretsch-Gitarre griff und in hundert Stücke schlug.

Die Legende stimmt leider nicht ganz. ,Aber wahnsinnig geärgert habe ich mich!“ sagt Edwyn Collins, in Jeans, Anthrazit-Polo und weinroten Adidas-Schuhen auf der Couch im Reihenhaus in London-Kilburn. Nachdem er 2005 zwei Hirnblutungen erlitten und beim Aufwachen im Krankenhaus unter anderem das Sprechen verlernt hatte, wird jetzt langsam, aber stetig alles besser mit ihm. Eine neue Platte, kurz vor dem Unfall aufgenommen, kommt Ende September. Und wenn man ihn nach der Herkunft des berühmten Waschbärschwanz-Hütchens fragt, das ihm damals auf den Bühnen Glasgows etwas Applaus und viele „Schwuchtel!“-Rufe einbrachte, erinnert er sich genau.

„Der Davy-Crockett-Hut – den habe ich 1979 oder ’80 in Edinburgh gekauft, für fünf Pfund. Ich wollte Exzentriker sein, trug einen Mantel mit Sheriffstern, Matrosen-Oberteile und Country & Western-Shirts. Am Anfang waren die Hemden mindestens so wichtig wie die Musik.“ Als Roddy Frame, der mit Aztec Camera später Collins‘ Label-Genosse war, ein Foto von Orange Juice sah, dachte er, sie wären eine amerikanische Band. Wegen der karierten Hemden und der für schottische Verhältnisse überraschend guten Gesichtshaut.

Frame war definitiv einer der Außenseiter, die mit Punk nichts anfangen konnten. „Mit 17 boten sie mir auf dem Arbeitsamt einen Baustellen-Job an. Ich schaute an mir herunter, rotes Halstuch, gelbes Hemd, rote Plastiksandalen, und meinte: ,Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich auf den Bau passe…“‚ Ein fragiler Gitarren-Songwriter wurde er zwar aber eben nicht zwangsläufig. „Ich liebte Cabaret Voltaire u nd Bowie“, sagt Roddy Frame. „^Vir wären nie auf die Idee gekommen, dass einer, der in Jeansjacke die Gitarre schrammt, authentischer ist als ein Synthesizer-Mann mit fingerdick Make-up. Das kam von der ,NME‘-Lektüre. Die Gitarre als Phallus, das tanden wir auch furchtbar. Wir pflegten unsere femininen, poetischen Seiten.“

Falls man den weit schweifenden Geist des New Pop unbedingt zu einem einzigen, kompakten Stein zusammenpressen will, müsste es die Plattenfirma „Postcard Records Of Scotland“ sein. Die es im Sommer 1982, nach 12 Singles und einer LP, schon gar nicht mehr gab. Gegründet vom Botanikstudenten Alan Hörne, gemeinsam mit Edwy n Collins, ein ebenso schneidiges wie tiefblau verträumtes Unternehmen: die schüchternen Jungs, die den dummen Punks schön eins auf die Nase geben wollten, die Coolness und Glorie der schwarzen Popmusik beschworen und AI Green coverten, obwohl sie wenig Töne trafen und das auch wussten, die den Sturm auf die Charts planten und doch froh sein mussten, wenn Geoff Travis von Rough Trade ihre Singles in den Vertrieb nahm.

„Ich habe nie wieder jemanden mit so starken Überzeugungen getroffen wie Alan Hörne“, sagt Roddy Frame. „Manchmalwar es kaum zu ertragen: Er ließ zum Beispiel pausenlos Vic Godard laufen, ,Stop That Girl‘, fragte immer wieder: ,Ist das nicht großartig?‘, bis wir sagten: ,Schon gut, verstanden – du willst, dass wir genauso klingen!’Ständig riefen Major-Labels an, aber sein höchstes Prinzip war: Wir haben hier etwas Wertvolles, und es steht nicht zum Verkauf.“ Der Plan, der verehrten Sängerin Nico das Orange Juice-Stück „In A Nutshell“ zu schenken, misslang allerdings: Nach dem Treffen erzählte Edwyn Collins vertraulich einem Reporter, die große Dame sei ja etwas dick geworden. Der druckte das prompt, Nico war beleidigt und ließ den Handel platzen.

„Ich erinnere mich an die Postcard-Tage mit dem Gefühl, eine Vision gehabt zu haben“, sagt Collins heute, „aber ich glaube, diese Vision habe ich überwunden“, und er lacht. Orange Juice waren es dann gewesen, die Hornes exklusiven Club verließen und zur Polydor gingen – mit dem „Top Of The Pops“-Auftritt, den sie im Februar 1983 doch noch bekamen, wäre es sonst wohl nichts geworden. Roddy Frame unterschrieb bei Warner, aber Opportunismus war seiner Meinung nicht schuld am Zerfall des Glasgower Bubenclubs und letztlich, im näheren Weiterlauf der 80er Jahre, der gesamten Neo-Pop-Utopie. Wenn, dann war es Ungeduld.

„Als Orange Juice zu Polydor gingen und Scritti Politti plötzlich Pop-Platten machten – da bekam ich das Gefühl, dass es auch für uns höchste Eisenbahn wird“, erinnert sich Frame. „Ich war jung! Sechs Monate kamen mir wie ein ganzes Leben vor, und ich wollte keine Zeit vergeuden. Heute ist das alles anders. Heute hätte ich kein Problem, mich sechs Monate nur vor den Fernseher setzen!“ Roddy Frame macht auch mit 43 noch tolle Platten.

Eigentlich war es völlig klar, dass jede der guten Ideen, die den Pop-Sommer 1982 so wunderbar gemacht hatten, bei der kleinsten Steigerung implodieren musste. Auf die gewitzte B.E.F.-Organisation von Heaven 17 folgte Paul Morleys Kunstfirma ZangTuum Tumb, die den schmalen Gag an der Band Frankie Goes To Hollywood so breit auswalzte wie ein tumber Entertainment-Riese. Haircut 100 wurden als Ober-Popper von Duran Duran abgelöst, an deren Nasenscheidewänden keine Spurvon Haltung mehr abzulesen war. Als der ROLLING STONE Ende 1983 mit einem Boy-George-Titelbild die neue britische Pop-Invasion verkündete, war das ein gewaltiges Echo der naseweisen Welle, dieses Bildersturms, der viel mehr neue Bilder brachte, statt alte zu zerschlagen. Aber eben nur noch ein Echo.

„Der Moment, in dem ich merkte, dass es vorbei war, war Live Aid“, sagt Journalist und Modeforscher Paul Gorman. „Das waren also die 45 wichtigsten, größten, erfolgreichsten Bands der Welt aber war irgendjemand dabei, der auch nur ein bisschen schick aussah? Paul Weller und Sade vielleicht, aber Bono, Jagger, sogar Bowie… abscheulich! Mitten im Videozeitalter hatten die Stars jeden Kontakt zur Basis verloren. Die Musik war okay, aber modisch gesehen war Live Aid ein Autounfall. Und das auch noch Stunde um Stunde um Stunde!“

Als ob Punk nie passiert wäre? Lady Di fand es trotzdem voll schräg.

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