Dramen, Komödien und Softpornos

Lou Reed nimmt seine Lesebrille ab, klappt das Buch mit Gedichten seines Lieblingsdichters Paul Theroux zu, lehnt sich zurück und lauscht der Musik. Nach ein paar Minuten dreht er sich zu seinem Freund und Produzenten Tony Visconti um, der hinter einer Glasscheibe vor einem Mischpult sitzt: „Das ist sehr schön, wie nennt man das?“

Wir wollen es „Recitement“ nennen. Ein Album mit Musik und Dichtung, gelesen von Schauspielern, Musikern, vor allem aber den Autoren selbst, untermalt von der Musik des niederländischen Komponisten Stephen Emmer. „Mir ist kein anderes Album mit vertonten Gedichten bekannt, in das so viel Arbeit und so viele Gedanken investiert wurden“, meint Visconti, der bei der Umsetzung des Projektes half. Der 50-jährige Emmer, der ansonsten Musik fürs niederländische Fernsehen komponiert, hatte ihn per E-Mail kontaktiert, um ihn für „Recitement“ zu gewinnen. Zunächst als Sachverständigen für Sound und Mix, denn die Originalaufnahmen von Dichtern wie Allen Ginsberg, Kurt Schwitters oder Jorge Luis Borges waren teilweise in so schlechtem Zustand, dass sie zunächst soundtechnisch stark bearbeitet werden mussten, um zu Emmers Musik eine tragende Rolle spielen zu können. In den Fällen, in denen dies nicht möglich war, suchten sie nach geeigneten Sprechern. Einen fanden sie auf einer knisternden Schallplatte aus den Siebzigern: Richard Burton rezitiert hier auf unnachahmlich lässige Art und Weise Christopher Frys „Boy With A Cart“. Ein Höhepunkt auf „Recitement“.

Visconti gewann für Therouxs „Passenger“ schließlich Lou Reed, und Emmers bat seine Landsmännin, die ehemalige Softporno-Queen Sylvia Kristel, Charles Baudelaires „La Beaute“ vor‘ zutragen. Eine sehr inspirierende Besetzung. Wenn sich die laszive Stimme mit den Streicherarrangements vermählt, sieht man die mittlerweile 56-Jährige wieder vor sich als „Emmanuelle“. Ob Emmer diesen Camp-Mo‘ ment so beabsichtigt hat und ob er dem großen Franzosen damit gerecht wird, ist eine andere Frage. Aber zwischen all den ernsthaften, pathosbeladenen Vorträgen, die „Recitement“ nicht immer sicher auf dem schmalen Grat zwischen Muzak und Prätention balancieren lassen, wirkt er sehr erfrischend.

Doch Visconti ist überzeugt: „Mr. Emmer ist ein großartiger Komponist. Es ist ihm gelungen, den Gedichten auf einer musikalischen Ebene gerecht zu werden. Sehr vielseitig in Stil und Klang. Jeder Track ist ein Fest für die Ohren.“ Und tatsächlich gibt es einige Tracks, auf denen Komposition und Arrangements-die von spröder Elektronik bis zu großen Chören so ziemlich alles umfassen – mehr sind als nur eine akustische Untermalung. Insbesondere, wenn man der Sprache, in der das Gedicht vorgetragen wird, nicht mächtig ist. Egal ob Niederländisch, Spanisch oder Italienisch – man hat das Gefühl, zumindest das vom Autor intendierte Sentiment auch so zu verstehen. „Recitement“ ist wie ein wirklich gut gearbeiteter Film“, meint Visconti, „es ist einfach alles drin: Drama, Komödie, Romantik, Leben und Tod.“

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