Draufgeher oder Draufgänger? Heinz Rudolf Kunze im Interview

Eben noch bei Carmen Nebel im ZDF, jetzt im Interview mit rollingstone.de: Kunze über "Die Gunst der Stunde", Blumfeld, Telepathie und Lena Meyer-Landrut.

Als die Hoteltür aufgeht, sitzt ein aufgeräumter und distinguierter Heinz Rudolf Kunze im Halbdunkel hinter einem Schreibtisch. Er bittet, näher zu treten, dann steckt er sich seinen obligatorischen Zigarillo an. Im April feiert Kunze sein 30-jähriges Bühnenjubiläum, bereits Ende Januar erschien sein neues Studioalbum „Die Gunst der Stunde“, das ihm wieder mal den Ruf des Schlageronkels einbringen dürfte. Werbung für sein aktuelles Werk machte er jüngst bei Carmen Nebel im ZDF. Dabei gebührt Heinz Rudolf Kunze zweifellos eine Sonderstellung im deutschen Popkosmos. Im RS-Interview spricht er über Blumfeld und Telepathie, Lena Meyer-Landrut und den nächstmöglichen Kanzler, das Aussterben der Liedermacher und Protestlieder.

RS: In „Ich liebe dich“, einem deiner neuen Songs, heißt es an einer Stelle: „Ich habe viel zu sagen und fast noch mehr zu singen.“ Was treibt dich nach 30 Jahren Karriere noch an?
HRK: Das ist jetzt natürlich die nahe liegende Verwechslung, zu glauben, dass diese Zeile auch auf mich zutrifft. Das ist ja nur ein Mensch, der sehr offensiv über Liebe nachdenkt und das ganze als Theaterstück erlebt, wo die Frau die Regisseurin ist. Aber ein bisschen trifft es auch auf mich zu. Mein Spieltrieb ist immer noch da. Ich kann es einfach nicht lassen. So etwas wie eine Schreibblockade kenne ich nicht. Ich habe das bei einigen Kollegen erlebt, die mir davon erzählt haben, wenn ihnen ein paar Jahre lang gar nichts eingefallen ist. Es klingt vielleicht kokett, aber die Einfälle suchen mich, nicht umgekehrt. Ich empfinde meine Art zu arbeiten oft wie eine Antenne: Eine Idee schwirrt in der Luft herum und ich empfange sie. Ich kann das nicht hinten anstellen, sonst liegt mir der Gedanke quer im Kopf. Diesen Trieb hatte ich bereits als kleiner Junge und Gott sei Dank ist er noch lebendig.      

RS: Im Booklet posierst du vor einer Wand, an der ein Foto von Neil Young hängt. Hat er das neue Album musikalisch geprägt?
HRK: Nicht sehr deutlich. Das war ein Scherz, den sich mein Fotograf erlaubt hat, weil er weiß, wie sehr ich Young mag. Er ist eine Größe, die mich immer begleitet hat. Seitdem ich ihn Anfang der 90er-Jahre mal interviewen durfte und eine Stunde mit ihm unter vier Augen hatte, ist er mir natürlich besonders ans Herz gewachsen, weil er sich einfach fantastisch benommen hat. Er hatte ja den Ruf, ein ziemlicher Stinkstiefel zu sein und Journalisten gerne zu fressen und zu schlachten. Das war bei mir überhaupt nicht der Fall. Er war total lieb und kooperativ.  

RS: Deine Texte sind diesmal überraschend unverblümt – Zeichen eines neuen Selbstverständnisses?
HRK: Das möchte ich doch hoffen. Es ist jedoch eine Frage der Auswahl: Ich habe immer viel mehr Zeug als ich gebrauchen kann. Die einzige Möglichkeit, dass zu steuern, besteht darin, eine Auswahl zu treffen. Wenn ich irgendwie gruselig drauf gewesen wäre, hätte ich ebenso gut eine Selbstmordplatte zusammenstellen können. Diese Texte sind immer vorhanden. Dass ich andere ausgewählt habe, zeigt wohl, dass es eine ganz entspannte Zeit war. Ich bin es gewohnt, dass im Studio die Fetzen fliegen, diesmal hatten wir jedoch eine Menge Spaß. Leo Schmidthals, der Bassist bei Selig ist und schon seit einigen Jahren in meiner Band spielt, hat das Album gemeinsam mit mir produziert. Wir hatten nie eine Auseinandersetzung. Alles lief konfliktfrei. Wir haben die ganze Zeit parallel gedacht. Das war fast schon Telepathie. 

RS: Du hattest immer schon einen großen Output. Auch in den letzten Jahren gab es verschiedene Bücher, Alben und Live-Programme von dir. Ist das nicht der kreative Ausverkauf?
HRK: Nein, ich habe einfach immer noch viele Ideen, die ich gern verwirklichen würde und ich habe Angst, dass sie in der Schublade versauern. Ich hätte kein Problem damit, es wie Frank Zappa zu machen und drei Platten pro Jahr herauszubringen. Aber die Plattenfirma sagt mit einem gewissen Recht: „Brems dich mal! Du verstopfst den Markt.“

RS: Andere Künstler brauchen vier oder fünf Jahre, um ein Album fertig zu stellen.
HRK: Das ist mir ein Rätsel. Was machen die bloß in der Zeit?

RS: An ihren Songs feilen, vermutlich.
HRK: Vielleicht haben die auch andere Hobbys, die sie mal so richtig ablenken. Ich lese und höre Musik in meiner Freizeit. Das hat auch wieder mit meiner Arbeit zu tun. Ich bin also immer in dieser Sache unterwegs.  

RS: Einige Stücke für „Die Gunst der Stunde“ hast du mit deinen Bandmitgliedern geschrieben. Zwischendurch arbeitest du immer mal wieder mit deinem langjährigen Wegbegleiter Heiner Lürig zusammen. Brauchst du den ständigen Wechsel deiner Kreativpartner, um dir eine gewisse Spontaneität zu bewahren?
HRK: Heiner hat meine Band inzwischen schon zweimal verlassen. Beim zweiten Mal gab es große Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und dem Rest der Band. Ich arbeite ja nach wie vor fürs Theater mit ihm, er schreibt die Musik, ich bin zuständig für die Texte. Da kommen wir uns nicht ins Gehege und unsere Freundschaft leidet nicht darunter. Andererseits freue ich mich darüber, dass die anderen Musiker aus meiner Band angefangen haben, zu komponieren. Vielleicht haben sie sich auch nicht getraut, solange Heiner dabei war. Seitdem er weg ist, kommen sie immer öfter mit Stücken, die mir gut gefallen. Ich achte allerdings darauf, dass wenigstens die Hälfte der Musik von mir stammt.

RS: 1996 hast du dich für eine Deutschrock-Quote stark gemacht. Hat sich seither in der deutschen Radiolandschaft etwas getan?
HRK: Nicht ich habe mir das einfallen lassen, sondern viele Kollegen, die mich als Klassensprecher bestimmt haben. Fast 800 Leute haben unterzeichnet, die Prügel habe ich jedoch allein einstecken müssen, obwohl ich diese Forderung immer für sinnlos gehalten habe. Das Schöne an dieser unseligen Geschichte ist, dass sie sich von selbst erledigt hat. Es gibt inzwischen jede Menge deutschsprachige Rock- und Popmusik, die auch erfolgreich sein darf und im Radio gespielt wird.

RS: Hörst du dir Bands wie Juli, Silbermond oder Revolverheld an?
HRK: Ich kenne das nur aus dem Radio. Bei den Bands, wo Frauen vorne stehen, höre ich viel von Nena heraus. Das ist das Schicksal, wenn man schon so lange dabei ist, dass man Spuren wieder erkennt. Ich hänge eher an Bands wie Blumfeld, die es ja leider nicht mehr gibt.

RS: Konntest du den Hype nach dem Sieg von Lena Meyer-Landrut beim Eurovision Song Contest im vergangen Jahr nachvollziehen?
HRK: Den Hype kann ich durchaus nachvollziehen. Nach Jahrzehnten des Rumdümpelns im Mittelfeld und noch weiter unten ist es sicher eine Besonderheit, dass ein deutscher Beitrag Nummer eins geworden ist. Roger Cicero ist vor ein paar Jahren, als ich selbst teilgenommen habe, skandalös schlecht bewertet worden. Er ist ein guter Musiker. Ich fand das damals deprimierend, dass gutes Handwerk bei einem solchen Wettbewerb so gut wie keine Rolle spielt. Der Sieg von Lena ging hauptsächlich auf Kosten ihrer Ausstrahlung. Sie ist ein neues deutsches Fräuleinwunder und ihre freche, kecke Art hat eine europaweite Charmeoffensive ausgelöst. Der Song war sekundär. Aber vor allem anderen war es natürlich ein Meisterstück von Stefan Raab. Sollte ihm das tatsächlich ein zweites Mal gelingen müsste er eigentlich Bundeskanzler werden. Was sollte er dann sonst noch machen?

RS: In einigen deiner frühen Lieder gelang es dir, mit ein paar Zeilen Stimmungen und Bilder zu erzeugen, die die damalige Bundesrepublik sehr gut widerspiegelten. Ist dir dieser kritische Blick mit den Jahren abhanden gekommen oder ist heute schlicht vieles besser?
HRK: Nein, ich lagere diese Sachen nur auf meine anderen Spielwiesen aus. Ich mag die literarisch-musikalische Mischform wie auf meinem Album „Räuberzivil“. In solchen Programmen kann ich das besser ausleben.

RS: Zu Beginn deiner Karriere haben dich viele in der Tradition von Liedermachern wie Franz-Josef Degenhardt gesehen. Wird diese Tradition heute noch von jungen Musikern fortgeführt.
HRK: Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall wird es nicht so richtig wahrgenommen. Ich hoffe natürlich, dass diese Tradition nicht ausstirbt. Mir haben Leute erzählt, es gebe jetzt einen tollen Songwriter namens Gisbert zu Knyphausen. Also stirbt es nicht ganz aus. Dieses deutsche Wort Liedermacher ist ein schwieriges Wort, weil man damit automatisch die leisen Sachen eines Reinhard Mey oder eines Konstantin Wecker verbindet. Das hat für mich nie so richtig zugetroffen. Ich habe zwar auch Lieder zur akustischen Gitarre oder zum Klavier gemacht, aber eben auch von Anfang an zur E-Gitarre, zur Rhythmusmaschine und zum Sequencer.

RS: Zum klassischen Liedermacher gehört auch das Protestlied. Warum schreibt heute niemand mehr solche Lieder?
HRK: Das liegt wahrscheinlich daran, dass Musiker gemerkt haben, dass man mit Liedern nicht die Welt aus den Angeln heben kann. Vielleicht ist unsere Welt zu schnell und verwirrend geworden, um sicher zu sein, was gut und was böse, wo schwarz und weiß ist. Alles scheint in einem flirrenden Grau aufgelöst. Es ist nicht mehr so einfach, Stellung zu beziehen. Mir geht das oft so und ich kann mir vorstellen, dass es bei vielen Kollegen ähnlich ist.

RS: Ist unsere Welt zu komplex, um die gesellschaftlichen Verhältnisse einzuordnen?
HRK: Ich glaube, nicht nur bei den Hörern, sondern auch bei den Machern von Songs ist eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Lieder haben schmale Schultern – man kann ihnen nicht die ganze Welt aufladen.   

RS: Im April feierst du mit einer Tour dein 30-jähriges Bühnenjubiläum. Welche Erwartungen hast du an dein Publikum?
HRK: Ich hoffe natürlich, dass viele Leute mein Album kaufen werden. In meinen Konzerten ist entscheidend, ob die Leute textsicher sind. Meistens haben meine Fans die Texte bereits verinnerlicht, bevor sie zum Konzert kommen. Wenn ich sehe, dass sich die Lippen in den ersten Reihen bewegen, weiß ich, dass wir viel richtig gemacht haben. Ich werde das genau beobachten.

RS: Wie viel Veränderung gestehen dir deine Fans zu?
HRK: Die sind ziemlich tolerant. Immerhin habe ich ihnen im Laufe der letzten 30 Jahre und über 30 Platten die unterschiedlichsten Sachen vorgespielt. Seit Bill Haley gibt es keinen Stil, den ich nicht irgendwann einmal ausprobiert hätte, von irischem Volkslied über Rap, Metal, Punk, Blues, Reggae bis hin zu „Die Peitschen“, einem elfminütigen Lied, das auf einem einzigen elektronischen Akkord herumreitet wie „Sister Ray“ von Velvet Underground.

RS: Brauchst du die Rastlosigkeit, die eine Tour mit sich bringt?
HRK: Das gehört zu meinem Beruf dazu. Den Leuten das vorzuspielen, was ich mir ausgedacht habe, ist doch die größte Belohnung, die man sich abholen kann. Das ist der beste Teil der Arbeit. Ich wünsche mir oft ein Auditorium wie in der Großen Freiheit in Hamburg auch im Studio, um nicht nur die nackten Wände anzusingen. Dann gäbe es mehr Zuspruch, Beifall und Reaktion.  

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