Ein Jahr nach 3/11

Um es gleich vorwegzusagen: Die Katastrophe, die am 3. März 2011 über Japan hereinbrach, hat nicht nur in Minuten mehr als 20.000 Menschenleben ausgelöscht und uns einmal mehr gezeigt, dass wir die Natur nicht beherrschen können. Sie hat auch gezeigt, wie Lügen, Gier, Ignoranz und Kumpanei zwischen Politikern und Atomindustrie ein ganzes Land an den Rand des Abgrunds bringen können.

Jahrzehntelang waren in Japan Risiken verschwiegen und Warnungen ignoriert worden. Immer wieder hatten Wissenschaftler gewarnt, dass die Tsunamischutzwälle zu niedrig seien, um die am Meer gelegenen Atomkraftwerke vor den Riesenwellen zu schützen. Doch sie gehörten nicht zu dem, was man in Japan das „Atomdorf“ nennt. Eine verschworene Gemeinschaft aus Politikern, Atomkonzernen und Medienleuten, die aufs Trefflichste voneinander profitieren. Mitglieder der Atomaufsichtsbehörden werden nach ihrer Pensionierung gerne mit hochdotierten Jobs in der Atomindustrie versorgt. Allein vier Vizepräsidenten von Tepco, dem Stromgiganten, waren zuvor für dessen Aufsicht zuständig. Auch Wissenschaftler bekamen immer wieder Geld von Tepco, solange sie das Spiel der „ungefährlichen“ Atomenergie mitspielten.

Doch was die Katastrophe besonders schlimm macht: Sie ist noch lange nicht vorbei, ihr Ausgang ist ungewiss. Auch wenn die Aufräumarbeiten in der vom Tsunami betroffenen Region weitgehend beendet sind und mit dem Wiederaufbau an anderen Orten begonnen wird – die Situation im zerstörten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi ist alles andere als unter Kontrolle, auch wenn Japans Regierung und die Betreibergesellschaft gerne den Eindruck vermitteln, das sei anders. Ein jüngst aufgetauchtes Regierungspapier, das erst als Privatunterlage eines Beamten deklariert wurde, verdeutlicht die Dramatik der ersten Tage. Die Regierung rechnete mit dem Schlimms-ten: mit Atomexplosionen, bis zu 250.000 Toten in kurzer Zeit und einer Evakuierung Tokios, was das Ende Japans, wie wir es kennen, bedeutet hätte. Am Ende hatte das Land sogar noch Glück.

Wie es heute in den Reaktoren aussieht, kann niemand sagen. Fest steht allerdings, dass sich zumindest in Reaktor 1 die geschmolzenen Kernbrennstäbe durch den Sicherheitsbehälter mindes-tens 70 Zentimeter weit in die zwei Meter dicke Betonummantelung hineingefressen haben, die letzte Barriere vor der Außenwelt. „Alles im Griff“, heißt es derweil von Tepco und aus der Regierung. Doch in Wahrheit haben sie nicht den Hauch einer Lösung. Niemand kann an die Reaktoren heran, die Strahlung wäre sofort tödlich. Alle Aussagen basieren auf Computersimulationen, die ihrerseits wiederum auf Messwerten aus den Reaktoren beruhen. Und ob diese Daten stimmen, kann niemand mit Sicherheit sagen.

Fest steht: Noch immer treten permanent mal mehr, mal weniger große Mengen radioaktiver Partikel in die Umwelt aus. Die größte Sorge gilt dem nahezu völlig zerstörten Reaktorblock 4. In seinem Abklingbecken befinden sich mehr als 1.300 Kernbrennstäbe. Die Angst: Ein nächstes schweres Beben könnte den sowieso schon schwer beschädigten Reaktor zum Einsturz bringen. Das Abklingbecken würde zerstört, es käme zu einer weiteren unkontrollierten Kettenreaktion. Diesmal unter freiem Himmel, denn das Abklingbecken ist von keiner Schutzhülle umgeben. Und im Januar veröffentlichten die Seismologen der Tokio-Universität eine Analyse, wonach ein solches Erdbeben innerhalb der nächsten vier Jahre mit 75-prozentiger Wahrscheinlichkeit eintritt. Und es wird noch mindestens 30 bis 40 Jahre dauern, bis das zerstörte Kraftwerk komplett abgebaut ist.

Die Menschen in Japan haben das Vertrauen in die Informationen, die Regierung und Stromwirtschaft zur Verfügung stellen, schon lange verloren. Über 70 Prozent der Bevölkerung sprechen sich für einen Atomausstieg aus. Mit seinen Lügen hat das „Atomdorf“ der Kernenergie einen Bärendienst erwiesen – und, wenn man so will, eine vierte Katastrophe ausgelöst: die schleichende Delegitimierung eines politischen Systems, das ganz offensichtlich die Interessen einer mächtigen Industrie über die Sicherheit seiner Bürger stellt.

Johannes Hano ist Leiter des ZDF-Studios in Peking und verantwortet auch die Japan-Berichterstattung des Senders. Sein Buch „Das japanische Desaster – Fuku-shima und die Folgen“ ist im Herder-Verlag erschienen.

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