Einladung zur Enthauptung – In seinem neuen Roman erzählt Paul Auster Geschichten von einem anderen Amerika

HELLES LICHT, DANN DUNKELHEIT. „Life’s hard and then you die“, behaupteten die Liverpooler Indie-Popper It’s Immaterial einst, und auch August Brill, der 72-jährige Protagonist aus Paul Austers neuem Roman „Mann im Dunkel“ (Rowohlt, 17,90 Euro) kommt zu keinem anderen Schluss. Die Frau des pensionierten Literaturkritikers ist an Krebs verstorben, er selbst ist seit einem Autounfall ohne Krücke oder Rollstuhl bewegungsunfähig. Nacht für Nacht findet er keinen Schlaf. Er wälzt die Welt in seinem Kopf— den quälenden Gedanken entkommt er nur, indem er sich eine Geschichte ausdenkt. Eine Geschichte, die in einer Parallelwelt spielt – einer Weit, in der die Vereinigten Staaten keinen Krieg mit dem Irak führen, sondern mit sich selbst.

Es gibt kein Entkommen in ein besseres Universum. Das Amerika, in dem die Twin Towers noch stehen, man sich aber im Bürgerkrieg befindet und für vier Eier 20 Dollar zahlen muss, fühlt sich in keinster Weise besser an. Owen Brick, die Hauptperson des Buchs im Buch -Paul Austers liebstes Spielzeug – durchlebt dort einen Albtraum. Sein Auftrag ist es, einen Mann zu töten, der für den Krieg verantwortlich zu sein scheint. Einen Mann, der in seinem Arbeitszimmer sitzt, diesen Krieg niederschreibt und ihn somit zu etwas Realem werden lässt. Einen Mann namens August Brill. „Mann im Dunkel“ ist das Gegenteil von „After Hours“. In Scorseses Film von 1985 irrt ein Mann eine Nacht lang durch das New Yorker Nachtleben, in Austers brillantem 14. Roman verliert sich ein Mann über den gleichen Zeitraum in seinem eigenen Kopf. „Ich habe keine Ahnung, wie ich die Idee dafür bekam. Das weiß ich eigentlich bei keinem meiner Bücher. Plötzlich ist irgendetwas da – als hätte sich im Gehirn ein ganz kleiner Schalter umgelegt“, zuckt Paul Auster mit den Schultern. „Eine Ausnahme war da .Reisen im Skriptorium“. Ich hatte ständig dieses eine Bild im Kopf: ein alter Mann, der mit gesenktem Kopf auf der Bettkante sitzt und auf den Boden starrt. Es hielt sich über Wochen, bis ich es schließlich aufgeschrieben habe. Ob ich dieser alte Mann bin? Vielleicht. Aber ich fühle mich immer noch relativ jung, und mein nächstes Buch, das ich gerade fertiggestellt habe und das sehr umfangreich sein wird, handelt von einem 20-Jährigen.“

Paul Auster, Ehemann der Schriftstellerin Siri Hustvedt und Freund des Transzendentalismus, gilt zu Recht als einer der amerikanischen Autoren der Gegenwartsliteratur. Er ist um so mehr der alte Mann in „Reisen im Skriptorium“ (2007), als dass er diverse Figuren aus vergangenen Romanen um ihn versammelt – wie John Trause, David Zimmer und Walt Rawley — und den Vorgänger von „Mann im Dunkel“ zur Essenz seines literarischen Schaffens macht. Bereits vorab fanden sich Referenzen zu „Mann im Dunkel“ – man darf die beiden Bücher getrost als Paar bezeichnen. Wie all seine anderen Werke hat Auster sie mit der Hand geschrieben und dann auf einer alten Olympia-Schreibmaschine abgetippt. „Ich kann nur durch einen Stift denken. Mit einer Tastatur geht das nicht.“ Der modernen Welt ist nicht zu trauen: „Bei Wikipedia steht, ich wollte als Jugendlicher Rabbi werden. Blödsinn!“ „Mann im Dunkel“ ist weniger ein politisches Buch, mehr eine schonungslose Bestandsaufnahme eines Mannes, einer Familie — natürlich im Angesicht der aktuellen Gegebenheiten. In einem sehr offenen Gespräch mit seiner Enkelin Katya offenbart Brill nahezu sein ganzes Leben. Verpasste Gelegenheiten und grobe Irrtümer, erste Küsse und sexuelle Vorlieben. Tagsüber schauen die beiden stundenlang DVDs – ihre Analyse von Klassikern wie „Fahrraddiebe“ und „Die große Illusion“ sind ein weiteres Lesevergnügen im Lesevergnügen. Paul Auster, der ebenfalls als Regisseur und Drehbuchautor arbeitet, ist selbst ein großer Cineast. ,Es wäre jammerschade, zu wissen, dass ich keinen Film mehr machen werde. Im Moment habe ich allerdings keine Idee. Mein letzter Film ,The Inner Life Of Martin Frost‘ wurde leider nicht in Deutschland vertrieben. Daniel Talbot, der Gründer meines Verleihs ,New Yorker Films‘, mittlerweile über 50 Jahre im Geschäft, sagte mir: ,Ich liebe deinen Film und werde ihn vertreiben.

Aber ich warne dich gleich: Er hat nicht das geringste kommerzielle Potenzial.‘ Natürlich hatte er Recht.“

Katya und ihr Großvater widmen sich um so mehr ihrem DVD-Player, da sie die Bilder verdrängen müssen, die das Video der Exekution von Katyas Ex-Freund Titus im Irak hinterlassen hat. Titus‘ Enthauptung ist von Auster so plastisch und ausführlich beschrieben, dass sich einem die Eingeweide umdrehen. „Ich musste soweit gehen“, erklärt er. „Ich wollte die ganze Brutalität, die dieser Krieg mit sich bringt, aufzeigen. Die andere brutale Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg von der Vierteilung einer belgischen Wiederstandskämpferin, in jungen Jahren Modell für einen Brunnen in Brüssel, ist im übrigen wahr. Genauso wie meine Beschreibung von den ,Newark Riots‘ von 1967, deren Augenzeuge ich war.“ Auster kennt den Schmerz der Familie Brills. Gewidmet ist „Mann im Dunkel“ dem Sohn des israelischen Schriftstellers und Friedensaktivisten David Grossman, einem engen Freund der Familie. Uri wurde vor zwei Jahren in Kämpfen zwischen Israel und dem Libanon getötet.

Seit er seinen großen Durchbruch mit den Detektivgeschichten der „New York-Trilogie“ (1985-87) schaffte, gilt Auster als jemand, der seine Stadt lesen und ihre U-Bahn-Linien am Geruch erkennen kann. Im Bürgerkrieg des Amerikas aus „Mann im Dunkel“ erklärt New York seine Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten und verabschiedet sich von George W. Bush. Ein Bild, das Auster durchaus gefällt. Kurz nach dem 11.

September 2001 flatterte ihm eine Lyrik-Zeitschrift ins Haus, auf deren Cover lediglich stand: „USA out of NYC“. Die Seite hängt eingerahmt in seinem Arbeitszimmer.

Den Wahlkampf in seiner Heimat verfolgt Auster nervös und angespannt. „Ich wähle nun seit 1968 – lediglich dreimal lag mein Kandidat vorne. Für diese Wahl ist es unmöglich, etwas vorherzusagen. Wäre Barack Obama nicht schwarz, würden die Demokraten mit Sicherheit gewinnen. Aber ich weiß nicht, wie rassistisch Amerika ist, wie sehr der ,Bradley-Effekt‘ mit hineinspielt. Tom Bradley, der bis dato einzige schwarze Bürgermeister von L.A., kandidierte in den Achtzigern bei der Wahl des Gouverneurs von Kalifornien. In den Umfragen lag er weit vorne, und hat dann doch verloren. Sollte Obama gewinnen, wird er während der ersten Regierungsperiode nur mit Aufräumarbeiten beschäftigt sein. Erst in einer zweiten Amtszeit wird er dazu kommen können, positive Veränderungen einzuführen.“

Was bleibt, ist Hoffen. Rührei und Speck, Arme Ritter und Pfannkuchen — es sind die kleinen Dinge, die einen ins Leben zurückrufen. Das angekündigte Frühstück am Ende von „Mann im Dunkel“ – ein Sinnbild für die Hoffnung. „Es gibt nichts Schöneres, als mit der Familie zusammenzusitzen und zu frühstücken, wenn die Sonne wieder zum Vorschein kommt.“ Währenddessen dreht sich die wunderliche Welt weiter. Diese Welt und alle anderen.

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