Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Im Kampf mit dem Space Cowboy gegen Tinnitus

Über ein Atmen im Ohr, das Hören einer einzigen Passage von Beethovens 9. Sinfonie – und die Entspanntheit der Steve Miller Band

Folge 255

Neulich war ich mal wieder bei meinem HNO-Arzt. Ein faszinierender Zeitgenosse, der vor interessanten Behandlungsansätzen nur so sprüht. Da könnten sich andere gut ein Ohr von abschneiden. Vor Jahren suchte ich ihn mit einer bösen Stimmbandentzündung auf, die eine bevorstehende Tournee mit meiner Band zu vereiteln drohte. Der HNO-Arzt riet dazu, gar nichts zu tun, außer Eierlikör zu trinken, sehr viel Eierlikör, das schmiere.

Ich gehe seither, wann immer es sich einrichten lässt, zu meinem HNO-Arzt. Neulich war ich wegen Ohrgeräuschen bei ihm. Sie plagten mich vor allem abends, es klang, als würde ich aus dem Ohr atmen, oder schlimmer noch, als würde irgendjemand aus meinem Ohr atmen. Es hatte etwas von einem Cronenberg-Film.

Der Arzt machte einen Hörtest, bei dem ich auf ein anschwellendes Piepen reagieren musste, das an überdimensionale, heimtückische Gruselmoskitos aus einem 30er-Jahre-Science-Fiction-Film denken ließ. Gleich darauf saß ich im Sprechzimmer des Arztes, der bereits das Ergebnis der Untersuchung studierte. Er informierte mich, dass mein letzter Test zwei Jahre zurücklag (wie gesagt, ich suche den Mann auf, wann immer ich kann) und dass die Ergebnisse des damaligen und des jetzigen nahezu identisch seien. „Was sind schon Ohrgeräusche“, fragte er rhetorisch, verschränkte die Arme hinterm Kopf und lehnte sich in seinem Arztsessel zurück.

Letztlich seien meine Ohrgeräusche alles, was ich höre, er aber nicht. Der Mensch verfüge über ein akustisches Gedächtnis, da sei alles ganz schön vollgemüllt mit irgendwann mal gehörtem Kram. Verbürgt seien auch Fälle, in denen der Geplagte ständig Beethovens 9. Sinfonie höre, „allerdings“, und hier schoss er plötzlich aus der entspannten Haltung in seinem Stuhl nach vorn, „immer nur dieselbe Stelle!“ – „Grundgütiger!“, entfuhr es mir. Jaja, ganz schlimm sei so etwas, aber sowohl dem Beethoven-Geplagten mit seiner Neunten als auch mir mit meinem Ohr-Atmen sei dasselbe zu empfehlen: „Nehmen Sie’s mit Humor, dann geht es von selbst wieder weg.“

Und wenn das nichts bringe, sei ein Besuch in einem Löwenkäfig zu empfehlen, da seien die Ohrgeräusche ruckzuck verschwunden.

Wie gesagt, ein faszinierender Mann, mein HNO-Arzt.

Ich höre seit meinem Besuch bei ihm anders. Meine Ohren sind wie neu. Und ich denke anders über das Hören nach. Denn wenn es möglich ist, dass Menschen ständig einen kurzen Auszug aus Beethovens Neunter hören können, dann kann es einem ja auch passieren, dass einem für den Rest des Lebens irgendein Sample aus einem Bernhard–Brink-Schlager im Ohr herumwurmt. Das heißt: Man muss auch nur den geringsten Kontakt mit Schlimmmusik, selbst die kleinste Zweiunddreißigstelnote, ebenso konsequent vermeiden wie der Laktoseproblematiker die Milch!

Seit ich mir meiner Ohren und meines Hörens bewusster geworden bin, bin ich zu einigen persönlichen popmusikalischen Klärungen gelangt. Zum Beispiel weiß ich jetzt, welches mein liebstes Joni- Mitchell-Album ist: Es ist eben keines der kanonisierten Werke, wie „Blue“ oder „Hejira“, sondern das oft geschmähte „Dog Eat Dog“ von 1985. Jahrelang bin ich hier zu keiner befriedigenden Antwort gelangt, ich war schon ganz verzweifelt.

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Nun aber, mit neuem Ohrbewusstsein, gewissermaßen aurikulär erleuchtet und neugeboren, hörte ich plötzlich klar: Erst im mechanischen Arrangement der 80er-Jahre sprechen Jonis Lieder zu mir. Ebenfalls weiß ich nun endlich, dass von allen Poprock-Riesenbands der mittleren 70er- bis mittleren 80er-Jahre die Steve Miller Band meine liebste ist. So etwas sollte man in einem gewissen Alter für sich geklärt haben!

Im Grunde ist die Steve Miller Band ja auch gar keine Poprock-Riesenband – viel zu ausgeruht und kauzig, selbst die Gitarrensoli. Mainstreamrock für Mainstreamrock- Hasser. Wenn die Steve Miller Band für den Rest meines Lebens mein Ohrgeräusch wäre, so wäre das okay. Ich wäre vermutlich enorm gelassen, ein ewiger Space Cowboy. dAch so, das Atmen im Ohr ist weg.

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