Es ist nicht leicht, Green zu sein

Langsam findet die britische Pop-Ikone Green Gartside mit seiner Band Scritti politti ins Leben zurück. Das bietet kaum mehr Luxus, aber Glück

Gefühlt die hälfte aller Artikel, die in der über 30-jährigen Geschichte der Band Scritti Politti erschienen sind, trug diesen Titel. Meistens natürlich auf Englisch, dann ist es noch ein bisschen hintersinniger. Aber auch auf Deutsch, der Sprache von Greens Großvater, von dem er seinen Geburtsnamen Strohmeyer hat, traf und trifft dieser Satz voll und ganz und immer noch zu: Es ist nicht leicht, Green zu sein.

Wenn man Green Gartside, Gründer, Gesicht, Denker und über weite Strecken einziges Mitglied dieser Gruppe, heute auf einer Bühne stehen sieht, wirkt das zunächst ganz normal. Vor der Bühne in Köln fallen zwar weltbekannte Elektronik-Produzenten reihenweise in Ohnmacht, doch die Mädchen weiter hinten, die von dieser etwas komplizierte Musik spielenden Herren-Band noch nie gehört haben, zeigen sich wenig beeindruckt, finden die Darbietung eher merkwürdig, verstehen die Aufregung nicht. Scritti Politti treten hier bei einem kleinen, alternativen Festival auf, genau wie bei ihrem letzten Deutschland-Konzert in Düsseldorf.

Nur, dass dieser letzte Auftritt im Jahre 1978 stattfand.

Zwei Jahre später verabschiedeten sich Scritti Politti sogar komplett vom Konzertwesen, erst 2006 kam es wieder zu ersten zaghaften Gehversuchen auf den Brettern, die im Musikgeschäft von heute nicht nur die Welt, sondern auch das eher karge Geld bedeuten. Zwischen den zwei Konzerten im Rheinland lag ein unglaublicher, schier endloser Umweg, musikalisch, menschlich, geografisch.

Seinen Anfang nahm der Trip jedoch wie bei so vielen britischen Jugendlichen seiner Alterskohorte mit der legendären Anarchy-Tournee von The Sex Pistols, The Clash, Johnny Thunders und The Damned im Jahre 1976. Green Gartside erlebte sie als junger Kommunist und Kunststudent in Leeds. Sofort gründete er mit Freunden und Gesinnungsgenossen eine eigene Punkband: Scritti Politti, nicht nur namentlich inspiriert von den Schriften des italienischen Marxisten Antonio Gramsci. Mindestens so wichtig wie musikalischer Enthusiasmus war die politische Einstellung. Bald verlagerte sich das Projekt nach London, Scritti Politti zog in ein besetztes Haus in Camden Town, die Besetzung der Band schwoll auf bis zu 40 Mitglieder an, von denen jedoch lediglich drei Musik machten. Der Rest kochte Tee und diskutierte die Feinheiten linker, kritischer Theorie. Bücher und Amphetamine waren der Treibstoff dieses rebellischen Lebensentwurfs. Schnell erschien eine erste, selbst veröffentlichte Single. „Skank Bloc Bologna“, auch heute im Live-Programm, war beste Anti-Musik, Postpunk von der Sorte, wie sie ein John Peel schätzte: flächige, unrockige Gitarrenschraffuren, holpriges Reggae-Drumming und auch Greens Gesang war weder rotzig noch gebrüllt, sein künftiger, zarter Stil schon klar erkennbar, jedoch noch unausgearbeitet, noch auf der Suche nach dem optimalen Ton.

Beinahe aus dem Stand heraus mit einiger Aufmerksamkeit als äußerst schlaue, aber auch gut aussehende Band bedacht, stand Rough Trade sofort bei Fuß, um das vielversprechende Projekt unter Vertrag zu nehmen. Große Taten standen an, noch vor dem ersten Album sollte es auf Tournee gehen, im Vorprogramm von Gang Of Four. Auf dem Weg zum ersten Auftritt dieser Tour, 1980, brach Green das erste Mal vor Bühnenangst zusammen. 26 Jahre lang waren Scritti-Politti-Konzerte nun kein Thema mehr.

Stattdessen zog sich der sensible und zu diesem Zeitpunkt von seiner Lebensweise stark ausgelaugte Künstler in seine Heimat Wales zurück, ging in sich und aufs Land, um einige Monate später mit einer völlig andersartigen musikalischen Ausrichtung zurückzukehren. Pop war jetzt der neue Punk, das System wurde nicht mehr von außen attackiert, sondern sollte von innen verändert, mit den eigenen Mitteln geschlagen werden. „Songs To Remember“, das erste Scritti-Politti-Album, war in seinem Erscheinungsjahr 1982 – dem historisch vielleicht wichtigsten Jahr des Pop – eines, das dieses Jahr definierte. Nicht unbedingt kommerziell, da waren Gruppen wie ABC oder Dexys Midnight Runners viel erfolgreicher. Aber niemand schaffte den Spagat zwischen linksintellektuellem Habitus und zuckersüßer Melodieführung so elegant wie Green Gartside in jenem Jahr.

Und er war bereit, mit der nächsten Platte noch wesentlich weiter zu gehen. Großproduzenten wie Arif Mardin und Großlabel wie Virgin und Warner stellten dem blühenden Talent dafür alle Mittel zur Verfügung. „Cupid & Psyche 85“ wurde zu einem auch produktionstechnischen Meilenstein. Nicht nur die Songs, Klassiker wie „Absolute“, „Hypnotize“ oder „The Word Girl“ bestachen, jetzt klang das Ganze auch noch genauso gut wie die Luxusprodukte aussahen, die ihre Cover zierten. Allergrößte Aufmerksamkeit für die Oberflächenpolitur wurde zu Greens Obsession, alles war und ist aber immer noch politisch links und kritisch gemeint. Dem Großteil seines in den späten 80er-Jahren immer größer werdenden Publikums, vor allem in den USA, dürfte das entgangen sein. Scritti Politti wurden zu einer hinreißenden Videoband, mit Make-up, Models und allem, was dazugehört, und Greens Stimme hatte nun ein beinahe irreales Level an Süße erreicht. Man konnte das subversiv finden, wenn man unbedingt wollte; für den reinen Popgenuss war es aber alles andere als nötig.

In den späten 80er-Jahren schwamm die Musikindustrie noch in Geld. Typen wie Green wurden bestens ausgestattet, um ihre extravaganten, hypermodernen, aber möglicherweise auch lukrativen Ideen umzusetzen. „Zeitweise unterhielten wir zwei Studios gleichzeitig in New York, jedes 1 000 Dollar am Tag. Absurde Ausgaben, absurder Zeitaufwand, absurde Aufmerksamkeit für Details wie Snaresounds.“ Das Ergebnis, das Album „Provision“, konnte Gäste wie Miles Davis aufbieten, dockte aber ästhetisch nur noch an einen glatten US-Mainstream an, der zu Zeiten von Acid House und Grungerock keine progressiven Hörer mehr erreichen konnte. Da konnten die Referenzen und Zitate noch so clever und kantisch sein.

Eingespannt in diese Mühle, eingesperrt in diese Blase, ereignete sich Greens zweiter Zusammenbruch fast zwangsläufig. „Ungefähr ein Jahr nach, Provision‘ kollabierte ich völlig, mental, körperlich. Ich hasste die Musikindustrie, ich hasste mich selbst, ich hasste die Musik, die ich machte. Ich trennte mich von meinem Management, ich trennte mich von meiner Freundin und ging wieder nach Wales aufs Land, diesmal für acht Jahre. Alles, was mich interessierte, waren New Yorker HipHop-Beats. Ich entwickelte ein Obsession für DJ Premier von Gang Starr.“ Das Album „Anomie And Bonhomie“ trug dieser Besessenheit Rechnung, mit Mos Def und anderen HipHop- Helden gab es auch eine Menge eingekaufter Glaubwürdigkeit auf diesem Terrain, die Rendite allerdings blieb aus.

Um die Jahrtausendwende waren teure, langwierige Studio-Modelle wie Scritti Politti in der Musikwelt nicht mehr zu stemmen. Langsam begann der Kreis, sich wieder zu schließen. Rough-Trade-Chef Geoff Travis war es, der den verlorenen Sohn schließlich dazu überreden konnte, Los Angeles und Warner Brothers zu verlassen und wieder nach London und zu Rough Trade zurückzukehren. Seit Mitte der Nullerjahre nun hat er zu Hause in Hackney ein Kellerstudio wie jeder andere auch heutzutage. „Alles ist viel besser jetzt. Niemand muss beeindruckt, keine große Show abgezogen werden.“ Das bisher letzte Scritti-Album „White Bread Black Beer“ überzeugt durch intimen, angenehmen Sound, schöne Songs und insgesamt eine wiedergewonnene Anschlussfähigkeit an die Gegenwart. Er bekommt dafür 2006 einen Mercury Award, lernt bei der Preisverleihung Hot-Chip-Sänger Alexis Taylor kennen, mit dem er nun an einem neuen Album arbeitet. Green beginnt zu verstehen, wie viel er manchen Musikern immer bedeutet hat, wie viel Einfluss er eigentlich hatte, etwas, was in seiner L.A.-Bubble kaum zu spüren war.

Groß, gut gekleidet, trotz 58 Jahren jungenhaft geblieben, mit Vollbart und Unterlippen-Piercing wirkt Green Gartside spätestens nach dem ersten Stützbier am Morgen nach dem Konzert so sehr im Reinen mit sich selbst wie wohl seit Jahrzehnten nicht mehr. Seine neue Band, vor allem der Keyboarder und Musikjournalist Rhodri Marsden, erinnert ein wenig an die Burschen, die vor ein paar Jahren mit Brian Wilson und dem „Smile“-Album herumzogen – junge Fans, die einem stark verhuschten Genie helfen, sein Werk endlich auf die Bühnen zu bringen. Hundertprozentig wohl scheint sich Green dabei immer noch nicht zu fühlen, Rampensau geht anders; aber immerhin, für ihn ist es ein gigantischer Sprung über den eigenen Schatten. Denn wirklich, es war und ist nicht leicht, Green zu sein.

Hans Nieswandt

Von Gramsci zu MiLEs DAVIS

Kaum ein britischer Popmusiker verbindet derart viele Leidenschaften wie Green Gartside. Von der Philosophie zur Pub-Theke ist es nur ein kleiner Schritt

Antonio Gramsci

Der 1891 geborene Vordenker des Italo-Kommunismus begann seine schillernde Karriere als Journalist. Die Faschisten inhaftierten ihn 1926. Hier verfasste er seine 32 „Gefängnishefte“, seine politischen Schriften („Scritti Politici“ – Gartside macht daraus „Politti“) .

Miles Davis

Der gemeinsame Song „Oh, Patti“ von 1985 taucht eher selten in den einschlägigen Alltime-Best-of-Listen auf. Jazzlegende Davis war seinerzeit auf Gartside gestoßen – und nicht etwa umgekehrt! Als erklärter Fan von Green Gartsides Art, Popmusik zu interpretieren.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates