DJ-Kultur gewinnt in Deutschland immer mehr an Einfluss

Für die einen sind sie Stimmungskanonen, für andere gelten sie als Propheten einer neuen musikalischen Ära: DJ-Kultur gewinnt auch in Deutschland immer mehr an Einfluss.

Die Plattenspieler rotieren: Darüber hängt ein schmächtiger Junge; ratscht höllenschnell mit den Reglern seines Mischpults, klopft mit flinken Fingern gezielt und exakt auf die kreiselnden Vinyl-Scheiben. Er hebt das Bein über die Turnrables – und scratcht. Er dreht eine Pirouette – und scratcht. Noch etwas Übung – und er scratcht womöglich mit dem Kopf. Der Sound, den Kid Koala produziert, ist kein Stück weniger virtuos: Ein funkiges Inferno, eine bizarre rhythmische Collage – Klänge und Texturen wie sie sich mit herkömmlichen Instrumenten ganz sicher nicht erzeugen lassen. Amerikanische Turntablists wie Kid Koala, die Invisibl Scratch Piklz oder die X-Ecutioners haben auf diese Art eine neue Form der Improvisation erfunden. Es ist eine abstrakte musikalische Sprache, die in Deutschland allerdings noch weitestgehend unbekannt ist. Doch Plattenspieler-Virtuosen und DJ-Bands sind lediglich das letzte Glied in einer musikalischen Evolution, die mal in den Siebzigern begann: der Siegeszug des DJ. Wir erinnern uns an das laute Gerede von den „neuen Popstars“ oder über die „Schamanen der Nacht“, denken an die Pseudo-Philosophie einer „ravenden Gesellschaft“, sehen die Videobilder von Sven Väth, wie er mit Delphinen das Glück unter Wasser sucht. Dabei ist Väth ein noch Guter, der das DJ-Handwerk in dem elterlichen Gastronomiebetrieb von der Pike auf gelernt hat. Doch was er dort auch mitbekam, war: Der Club-DJ ist ein Dienstleister, ein Crowd-Pleaser. Elegante Übergänge zwischen den Stücken sind neben einem durchgängigen 4/4-Takt die Basis einer guten Party. Deshalb ist die Aufgabe eines House- oder Techno-DJs vor allem ein perfekter Mix, der „Soundtrack einer Nacht“, dem Pöbel zu geben, was der Pöbel wilL Doch im verblassenden Schatten der einstigen Generation Loveparade gewinnt auch in Deutschland eine neue, von broken beats und der HipHop-Oldschool beeinflusste DJ-Schule an entscheidendem Einfluss: DJ Stylewarz, DJ Coolman, die Stieber Twins, Terranova, DJ Thomilla, Roey Marquis sind nur einige hervorragende Vertreter. Die Funktion des DJs im HipHop ist weniger die des Alleinunterhalters und Animateurs – dafür gibt es schließlich MCs. Beim HipHop zählen die Breaks und Scratches, hier ist der DJ ein Selbstdarsteller, ein Virtuose an seinem Instrument, dem Technics 1200 MK2. In sogenannten battles zeigen DJs ihre Skills, indem sie immer wieder gegeneinander antreten. Die ungeraden Takte dominieren, die Musik entspricht der Unübersichtlichkeit urbaner Lebensverhältnisse. Auch die Metapher von der Wiedergeburt des Jazz macht Sinn, denn oft bilden sich um den DJ spontane Gruppierungen von Rappern und Instrumentalisten – die Improvisation wird so wiederentdeckt Wer etwas über DJ-Kultur in Deutschland erfahren will, der sollte zuerst in einen Plattenladen gehen: Dort sieht man dann die Hierarchien, erkennt die Möglichkeiten ihrer Unterwanderung: Während der Novize keines Blickes gewürdigt wird, lange anstehen muss, bis er endlich seine ausgewählten Platten über Kopfhörer anhören darf, diront der localhero an der Hausanlage und spielt in ohrenbetäubender Lautstarke jene Scheiben, die ihm jemand in seinem eigenen Fach zurückgelegt hat. Hochkarätige Spezialitäten landen gleich in den Fächern der Stars, gelangen gar nicht in den normalen Verkauf. Trotzdem sind solche Läden wie Container Records oder Groove City in Hamburg für Insider enorm wichtige Treffpunkte und Informations-Börsen. Das Personal solcher Läden besteht fast ausschließlich aus DJs und Leuten, die es noch werden wollen. Hier entstehen erste Kontakte, die nicht selten zu Plattenverträgen und Album-Veröffendichungen führen können. Vbn HipHoppern wie DJ Thomilla und Roey Marquis II, bis zu Elektro-Innovatoren wie Sensorama oder Basic Channel – fast alle haben sie am Anfang ihrer künstlerischen Karrieren in Plattenläden gearbeitet Nicht weniger wichtig für den Werdegang eines DJs ist natürlich der Club -jener mythisch verklärte Ort, an dem alles möglich scheint Denn wer hätte auch 1990 gedacht, dass ausgerechnet zwei Frankfurter DJs einen der weltweit größten Dance-Hits landen würden? Michael Münzing und Luca Anzilotti hatten für ihr Projekt SNAP einfach das gemacht, was DJs eben immer tun: Sie kombinierten nämlich „Love Is Gonna Get You“ vonjocelyn Brown mit Chili Rob G.’s „Let The Words Out“ zu dem Welterfolg „The Power“, der selbst in den USA mit Platin ausgezeichnet wurde. Dieses Stück entstand jedoch nicht mal eben so, sondern wurde in Diskotheken, wie dem legendären „Omen“ etwa, immer wieder auf Tanzbarkeit und Massenappeal getestet Im einem Club erfahren DJ’s entscheidende Dinge – von denen Produzenten und Musiker meist keine Ahnung haben: Wer tanzt wann und warum zu welcher Musik? Die neuen Trends und Entwicklungen werden also hier zuerst sichtbar und geprägt. Der DJ hat „Königswissen“ – er weiß mehr über Musik als andere. Und daher wird sich ab einem gewissen Zeitpunkt eine Schar von Getreuen um ihn gruppieren: Der Frankfurter Roey Marquis ist dafür ein gutes Beispiel. Seit über zehn Jahren legt der 28-jährige, der eigendich Calogero Randazzo heißt, Platten auf. Er war in dieser Zeit Club-Manager, Plattenladenbesitzer, Studiobetreiber und vor allem Produzent. Eines seiner letzten Projekte (mit DJ Kabuki von der Hanauer Drum’n’Bass-Crew Megashira)hieß MK2, so wie der Plattenspieler, um den Roeys Vision kreist. In dieser Zeit trifft er Leute, verliert sie wieder aus den Augen, lernt andere kennen… Das alles geht schnell und unkompliziert. Keiner muss erst mal „die Band zusammenbringen“ oder ein preiswertes, gutes Studio suchen. Kein Produzent kann die Aufnahmen versauen denn alles ist in einer Hand, wird mehr oder weniger daheim produziert Mit seinem neuesten Projekt Spiritual Warriors zeigt Roey Marquis eine weitere Qualität der DJ-Culture: globale Vernetzung. Mehr als die Hälfte der an diesem Projekt beteiligten Rapper, DJs und Produzenten kommt aus New York – ihre Texte sind zweisprachig, die Beats universell. Während die Sprache des Rock’n‘-Roll nur noch wenige neue Worte findet, sich immer stärker in lieb gewonnen Klischees einrichtet, suchen die DJs nach einer Dekonstruktion des Satzbaus. Sie ordnen die Silben, Vokale und Konsonanten der populären Kultur neu, manchmal ohne die Relevanz ihres Tuns wirklich einschätzen zu können. Das fuhrt mittelfristig zu einem Verschwinden der Genres und Stile, und eine immer stärker werdende Diversifikation fuhrt dazu, daß unendlich viele Sub-sub-Genres entstehen, die meist nur zur stilistischen Beschreibung von ein oder zwei Bands dienen. Diese Entwicklung, die in den nächstenjahren via Internet noch beschleunigt werden wird, beschreibt allerdings exakt die Arbeitsweise eines DJs: Jeder Mix ist anders – und in jedem Mix ist Platz für jedes Genre. Die Zukunft gehört dem Freestyle. Und die einzigen Solisten, die perfekt diese vielseitigste aller Stilarten beherrschen, sind die DJs.

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