Geflüchtet aus der Enge
Erst in England hatte dieTexanerin SHEA SEGER den Mut, ihre schräge Herkunft in Southern-Soul-Songs zu reflektieren
Sie reden über sie in Quitman, Texas. Tratschen und tuscheln. Verstohlene Blicke beim Bäcker um die Ecke, wenn sie – wie an Weihnachten – zu Besuch ist. Mit welchem Produzenten hat sie sich hochgeschlafen? Und die Crack-Gerüchte?
Musik war für Shea Seger schon früh eine „Überlebenstaktik“ in der geistigen Enge des 1200-Seelen-Kafls zwei Autostunden östlich von Dallas. „Wir lebten draußen am Ortsrand. Und so behandelten sie uns auch.“ In den 70er Jahren hatten ihre Eltern noch einen Live-Laden in der Blues-Meile Forth Worth. Unter „Unde Fred’s Rocker“, so hieß der Club, verlegt Seger heute die frühreifen Neo-Southern-Soul-Songs ihres Debütalbums „The May Street Project“. Aus der erlesenen Plattensammlung ihres Vaters, ein behinderter Vietnam-Veteran, sog sie Honig zwischen „Billie Holliday, Bolero und den Cars“, während die „amerikanische Mentalität“ schon früh für Verzweiflung sorgte. Seger ergriff die erste Chance zur Flucht, ein Theater-Stipendium in Virginia Beach. Sie spielte in Musicals und findet es heute „ganz gut, dass ich einen kleinen Kulturschock direkt vor der Haustür erlebt hatte, bevor ich in die Welt zog“. In New York lernte sie irgendwann diese Leute aus London kennen, „mit denen ich auch Musik schreiben konnte“. Sie zog schließlich in die britische Hauptstadt – und blieb.
„The May Street Project“
steckt nicht nur im verhangenen Titelsong voller Referenzen an Texas – diesen Bundesstaat, den sie „merkwürdig“ und auch „besessen“ nennt, dem sie jetzt mit einer „komischen Mischung aus Wut und Respekt“ begegnet May Street ist die Gegend in Fort Worth, wo laut Shea „psychotische Vietnam-Vets, illegale Einwanderer und weiße Mittelklasse“ aneinander vorbeileben.
In England wird ihr „bluesy pop with beats“, so Seger, schon mit Kritikerlob überschüttet, Amerika darferst jetzt mit der verlorenen Tochter musikalische Bekanntschaft machen. Ob sie Angst vor dieser Rückkehr hat? „Nein, Angst ist ein zu starkes Wort. Ich mache mir halt Gedanken, wie meine Musik dort funktioniert, weil alles so anders ist Aber ich stehe nun mit beiden Füßen auf der Erde. Da werde ich das auch irgendwie überleben.“ Vielleicht reden sie ja bald anders über Shea Seger in Quitman, Texas.