Gypsy-Groove

Fake-Folklore für rockmüde Eklektiker: Auch Madonna huldigt schon den Freuden des feurigen Balkan-Pop

Es ist eine Szene wie aus Rumpelstilzchen, die sich am 7. Juli auf der Bühne der Londoner Wembley Arena abspielt: Im eleganten kleinen Schwarzen, auf High Heels und mit keck gekipptem Borsalino stakst die Queen of Pop über die Bühne, um im Rahmen des „Live Earth“-Spektakels ihren Beitrag zur Rettung der Welt zu leisten – ausgerechnet mit dem Sonnenöl-Schlager „La Isla Bonita“. Doch hoppla! Was ist das? Neben Madonna tauchen plötzlich zwei abgerissene Schnurrbart-Halunken auf: Eugene Hutz und Sergey Ryabtsevvon der New Yorker Gypsy-Punk-Band Gogol Bordello, bewaffnet mit Fiedel und akustischer Gitarre. Breit grinsend und wild stampfend sägen sie an dem alten Disco-Hüpfer, so lange, bis man nicht mehr weiß, ob man sich auf der Hochzeit eines Zigeunerbarons befindet – oder doch beim Finale des „Eurovision SongContest“.

Schon seit Jahrzehnten sagt man Madonna nach, dass sie eine gute Nase für die Vollreifen Früchte des Underground besitzt, die bereit sind, ihren Saft in der Arenades Mainstreams zu verspritzen. Schon 1985 spielten die Beastie Boys bei ihr im Vorprogramm – einJahr vor Veröffentlichung des Debütalbums „Licensed To Ill“.

In dieser Saison hat Mrs. Richie also ein wohlgefälliges Auge auf Gogol Bordello geworfen. Die überwiegend aus Exil-Russen und Israelis bestehende Truppe gilt in den USA als populärste Band des Gypsy-Punk. Falls Sie das Genre noch nicht kennen- kein Problem, in Deutschland nennt man diese Musik auch Balkan-Pop, Russen-Disko oder denkt sich einfach selbst irgendetwas Wodkageschwängertes dafür aus. Es geht umdie Neuentdeckung von osteuropäischer Folklore und Sinti-Musik diesseits des Museums der, Weltmusik“. Künstler und Bands wie Gogol Bordello, Beirut, Balkan Beatbox, Shantel, Oi Va Voi. Socalled oder OMFO sehen sich als Teil einer Popkultur, die benutzt und mitnimmt, was gefällt. Schon vor Jahren begeisterte die rumänische Truppe Taraf de Haiduks den Schauspieler Johnny Depp, der von ihren Konzerten schwärmte – doch die Pioniere werden heute von Rock&Roll

wagemutigen Eklektizisten überflügelt. Im Mittelpunkt steht dabei die Blechbläser-Power archaisch klingender Dorfkapellen oder mit Siebenbürgen-Sehnsucht aufgeladene Fiedelmelodien, die mit Punk, Pop, Hip Hop oder Rock verschnitten und auf westliche Trinkstärke herabgesetzt werden.

Ganz ähnlich entstand in den vergangenen Jahrhunderten auch die Musik der Zigeuner: Klezmer, Militärmusik, Volksmusik aus der Türkei, Arabien und dem Balkan – was am Rande ihres langen Weges lag, landete im Repertoire der fahrenden Musiker. Oft waren es Lieder für Hochzeiten, manchmal für Todesfälle, aber immer schwang in ihnen eine Emotionalität und Empathie mit, die im aktuellen Pop selten geworden ist.

„Mit traditioneller Musik ist es ähnlich wie mit der katholischen Kirche: Die hat 2ooojahre Tradition, und egal, ob du gläubig bist oder nicht – am Ende einer Christmette bist du immer ergriffen. Die wissen einfach, was funktioniert“, behauptet Dirk Trageser von der Berliner Band 17 Hippies, die seit Mitte der Neunziger eine abenteuerliche Mischungaus Balkanfolklore. Klezmer, Cajun und Chanson zusammenbraut. Es geht dem 13-köpfigen Orchester dabei um so herrlich altmodische Dinge wie Konzerte in vollgestopften Clubs und Eckkneipen und ein Publikum, das nicht nur dasteht und zuguckt, sondern mitmacht, mittanzt, mitsingt. Balkan-Pop funktioniert auf Augenhöhe, und das Publikum feiert nicht nur die Band, sondern immer auch sich selbst und seinen Mut zur Peinlichkeit bei den eigenen Volkstanz-Versuchen. Rockmusik hat in diesen Kreisen ihren Zauber verloren. Sie gilt vielen als kalte Selbstinszenierung austauschbarer Lederjacken, als leere Pose, die einer veränderten und globalisierten Welt wenig entgegenzusetzen hat, als das alte Klischee vom unerreichbaren Popstar, der eher coole Marke ist als Mensch.

„Nach der Wende zerbrach das Gebäude der angloamerikanischen Popmusik“, behauptet Christopher Blenkinsop, einer der Gründer der 17 Hippies. „In Berlin traf man plötzlich Leute aus dem Osten, und die haben eine ganz andere Musik gemacht, und das mit einer anderen Haltung. Ich fand es schon immer albern, wenn Deutscheüber Cadillacs und Avenues gesungen haben. Da war plötzlich so eine Neugier, und ich dachte: Hey, was sind eigentlich unsere Wurzeln?“

Tatsächlich haben der Mauerfall und die Öffnung des Ostblocks eine neue kulturelle Perspektive geschaffen, die durch die Folgen von 9/11 nur noch verstärkt wurde. Immer mehr Menschen verlieren das Interesse an den amerikanischen Mythen-Fabriken, sehen sich eher als Europäer und interessieren sich deshalb verstärkt auch für das, was in der östlichen Nachbarschaft passiert. Nach der Russen-Mafia kam die „Russendisko“, doch schon vor dem Bestseller gab es die Partyreihe: Wladimir Kaminer und sein DJ-Co-Pilot Yuriy Gurzhy frönen in der Berliner Institution Kaffee Burger schon seit 1999 schwer augenzwinkernd dem Klischee vom fröhlich saufenden und feiernden Russen. In der Russendisko läuft seitdem alles, wozu man hüpfen und springen kann, vom „kleinbürgerlichem Punkrock aus Sibirien bis zum „Zigeuner-Ska aus Moldawien“. Auch das restliche Deutschland wird von den beiden inzwischen großzügig mit Compilations und DJ-Tourneen versorgt. Bei dieser enormen Nachfrage kann es sich Kaminer natürlich leisten, Witze über die alten Vorurteile zu reißen: „In jeder zweiten Stadt wurden die Veranstalter von der Polizei angerufen, die ihre Hilfe anbieten wollte. Russendisko? Aus Berlin? Wieso werden die von euch eingeladen? wunderte sich ein Polizeisprecher in Hannover. Neulich hatten wir hier doch schon eine Russendisko – in der Tiefgarage. Zwei Tote, sieben Verletzte…“

Stefan Hantel ist ein guter Freund von Wladimir Kaminer. Der Frankfurter nennt sich Shantel und hat früher geschmäcklerischen TripHop produziert und aufgelegt- hübsch, aber auch ein wenig harmlos. Heute inszeniert der DJ und Produzent lieber die südosteuropäischen Wurzeln der eigenen Familie. Man kommt allerdings leicht durcheinander, wenn man dem Gewinner des „BBC World Music Award 2006“ zuhört, denn ein Teil der Familie stammt offenbar aus Griechenland, ein anderer aus der Bukovina, ein Landstrich, der heute zur Ukraine und zu Rumänien gehört. Doch der Stammbaum spielt keine Rolle mehr, wenn der 38-Jährige mit seinem Bucovina Orkestra auf der Bühne steht und dabei aus Jux so unbeholfen radebrecht, als wäre er erst letzte Nacht auf einem Eselkarren über die grüne Grenze eingereist. Dann ist „Disco Partizani “ angesagt (so heißt auch das neue Album) – mit Tuba, Trompeten und einer raffinierten elektronischen Nachbearbeitung. In Tel Aviv tanzte auch der Comedian Sasha Baron Cohen zu Shantels Culture Clash – und bestellte umgehend einen Song für „Borat“. Fatih Akin ließ bei einer der regelmäßigen Buccovina-Club-Partys in Istanbul den Bauchnabel kreisen—und schon stammt der komplette Soundtrack für , Auf der anderen Seite“, den neuen Film des Hamburger Regisseurs, aus Shantels Studio und Plattenkiste. „Was ich mache, ist Roots-Musik, genauso wie Reggae, Blues oder Soul. So etwas hat einen schon immer auf Teufel komm raus angesprungen. Das muss in die Beine gehen, dabei aber auch ins Herz treffen und in die Seele“, sagt Shantel und wirkt dabei deutlich distinguierter als auf der Bühne oder hinter seinen Plattenspielern. „Disko Partizani ist ein Schlachtruf, der definiert, was in Europa los ist“, behauptet er selbstbewusst. „Früher mussten wir mit den Hypes aus dem Westen leben – nun ist es auch mal andersherum.“ Das globale Interesse am Karpaten-Groove hat Shantel neulich sogar einen Auftritt auf einem Festival in Rio de Janeiro beschert – zwischen Daft Punk und den Beastie Boys: .Anfangs hatte ich Angst, dass mich die Brasilianer von der Bühne jagen, aber das Publikum war Feuerund Flamme, und auch die Beastie Boys hatten so etwas offenbar noch nie gehört.“

Natürlich geht es bei dieser munteren Pop-Folklore nicht um Authentizität. Eher um die Definition eines europäischen Lebensgefühls, etwa jene Sehnsucht nach ,Heimat“, die man aus den Filmen des bosnischen Regisseurs Emir Kusturica kennt, der ja selbst aus einem zerrissenen Land kommt und deshalb weiß, wie problematisch die Suche nach Identität heutzutage ist. In Kusturicas Filmen „Underground“ und“Schwarze Katze, weißer Kater“ fand die traditionelle Balkanmusik von Goran Bregovic, dem Boban Markovic Orkestar oder Fanfare Ciocarlia erstmals ein größeres Publ ikum. Da pumpt die Tuba wie eine verzerrte Baseline, Trompeten und Klarinetten liefern sich rasante Duelle, und überhaupt klingt das alle so wild und kakophonisch, dass einem schon hierfür das Etikett „Gypsy Punk“ einfällt.

Der 21-jährige Amerikaner Zach Condon, besser bekannt als Beirut, war von Kusturicas Filmen und ihrer Musik so fasziniert, dass es ihn vom wüstenstaubtrockenen SantaFe nach Europa zog, um nach den Quellen der dazugehörigen Kultur zu forschen. Ein Schüleraustausch geriet dem minderjährigen Wohnzimmer-Produzenten zur romantischen Suche nach dem goldenen Gral der osteuropäischen Folklore, nachzuhören auf „Gulüg Orkestar“, einem der besten Alben des letzten Jahres. „Man findet in den USA wahrscheinlich nur wenige Menschen, die sich dezidiert für Balkan-Musik interessieren“, erklärt Condon. ,Aber es gibt viele, die es leid sind, immer nur Gitarre, Bass und Schlagzeug zu hören. Die Leute suchen nach etwas Neuem.“ Zach Condon auch, deshalb ist er jetzt von Texas nach Paris gezogen. Auch der russisch-stämmige Amerikaner Nick Urata sieht in den osteuropäischen Folklore-Einflüssen seiner Band Devotchka nicht Erinnerungen an die alte Heimat, sondern in erster Linie neue Sounds und Möglichkeiten: „Ich wollte eine Musik spielen, die mich emotional berührt und nicht klingt wie der zehnte Aufguss einer Garagenband.“

Natürlich ist es vor allem der frische und mitreißende Sound, der den Balkan-Pop momentan so attraktiv macht. Ein Novelty-Effekt, der nebenbei auch ein wenig an die rumpelnde Energie alter Ska-Songs erinnert. Dazu kommt die von praktisch allen Künstlern gepriesene Emotionalität der alten osteuropäischen Melodien und die Exotik vieler an Bauchtanz-Musik erinnernder Rhythmen. Trotzdem ist das relativ überschaubare Genre Balkan-Pop nicht „die soundgewordene Antwort von Einwandererkindern, die auf ihre kulturellen Hintergründe zurückgreifen“, wie die „Zeit“ unlängst vermutete. Das wäre ein viel zu großes Klischee. Der Berliner DJ Craft, dessen Eltern aus Ungarn stammen, spielt zwar in Yuriy Gurzhys Russen-Combo Rotfront, doch das Zentrum seiner Kunst ist die formidable Rap-Truppe K.I.Z.. Gerade die Berliner HipHop-Variante hat bisher noch jeden kulturellen Einfluss eingesogen wie ein nasser Schwamm.

Es ist das Spektakel des „Eurovision Song Contest“, das seit einigen Jahren zeigt, wie der Einfluss des Westens schwindet. Verka Serduchkas „Dancing Lasha Tumbai“ mag grell und albern sein, aber das sind viele Rock’n’Roll-Inszenierungen auch. Deshalb war es nicht nur eine freundliche Geste, als Madonna die beiden Gogol Bordello-Musiker auf die Bühne bat. Es war eine weltweit ausgestrahlte Frischzellen-Kur.

Der Fall der Berliner Mauer und die Öffnung des Ostblocks brachten eine neue kulturelle Perspektive.

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