Happy Birthday, Bob Marley: Soul Rebel und Solitär

Heute wäre Bob Marley 69 Jahre alt geworden. Frank Castenholz über eine Ikone, bei der es auch 33 Jahre nach seinem Tod vieles zu entdecken gibt.

Ausgerechnet Marley! Ist nicht alles in den letzten Jahrzehnten bis ins letzte Detail in Artikeln, Biographien, Dokumentationen und Zeitzeugenberichten über Gebühr ausgeleuchtet? Ist nicht ohnehin jeder, ob er will oder nicht, mit den omnipräsenten Hits seit Jugendtagen vertraut und mit der Kompilation „Legend“ und vielleicht zwei oder drei weiteren Island-Alben bestens bedient?

Über Marley und die Wailers zu schreiben, ist in der Tat ein sperriges Unterfangen. Nicht nur, weil einem die immer noch allgegenwärtige Ikonographie dieses bislang größten Popsterns der sog. „Dritten Welt“ und die diesbezügliche persönliche wie kollektive Befangenheit im Weg stehen. Auch weil der Zugang zur Person Marley trotz der Vielzahl an biographischem Material seltsam verschlossen bleibt. Und nicht zuletzt weil es keineswegs leicht ist, den diskographischen Spuren der Wailers über die Jahre zu folgen. Handelt es sich dabei doch um ein unübersichtlich großes, über weite Strecken nachlässig dokumentiertes Werk, das sich über eine Vielzahl von Labels einschließlich vieler mittlerweile rarer Singles und unveröffentlichter Demos und Outtakes und einer Unzahl lieblos zusammengeleimter Kompilationen erstreckt.

Wäre Bob Marley selbst zufrieden mit dem, was er in seinem allzu kurzen Leben erreicht hat? Der äthiopische Kaiser Hailie Selassie I (Geburtsname Ras Tafari), verehrter Heiland der Rastafaris, hat sich auch 37 Jahre nach dem von westlichen Babyloniern verbreiteten Gerücht, er sei verstorben, nicht mehr blicken lassen; ein Großteil seiner Fans hält Marleys drängendstes religiöses Anliegen wohl für ethnische Folklore. Jamaika geht es im Grunde heute nicht viel besser als vor 40 Jahren, als die Wailers und viele gleichgesinnte Gruppen die Willkür, Unterdrückung und Korruptheit des Systems geißelten und sich der Armut, Verzweiflung und Verrohung der Ghettobewohner annahmen. Mit Marleys Tod verlor Reggae seine internationale Zugkraft und seinen Ethos, Marleys Familie, Geschäftspartner und Freunde lieferten sich jahrzehntelange Rechtsstreite um das Erbe.

Was bleibt also? Der Respekt vor seinem immensen künstlerischen Schaffen und die Faszination für ein stets um Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit ringendes, mutiges, intensives Leben, das an Strahlkraft bis heute nicht eingebüßt hat. Und kaum zu erfassen ist: Denn je emsiger die Beschäftigung mit seiner Vita, je akribischer Lektüre und Studium seiner Aufnahmen, desto mehr verfestigt sich ein Eindruck, der ihn vermutlich erfreut hätte: All sein Streben und Fehlen, seine Sturheit und Militanz, seine Sinnlichkeit und Promiskuität, das unbedingt Religiöse, die Widersprüche und Konflikte, spiegeln sich in seinen Songs. Man darf das ruhig authentisch nennen, auch wenn im heutigen Popdiskurs nicht altbackener, sentimentaler und naiver wirkt als eine 1:1-Setzung von Leben und Werk. „Marley“, Kevin MacDonalds diesjährige Dokumentation ist der bislang letzte Anlauf, uns die Person näher zu bringen, und zeichnet sich doch über weite Strecken durch eine bemerkenswerte Abwesenheit der Hauptperson in Bild und Ton aus. Was seine Lieder nicht über ihn sagen, sondern andere, scheint Mutmaßung oder Projektion, die mehr die Interessen der Weggefährten, etwa seines langjährigen Managers Don Taylor, mit dem er im handgreiflichen Streit schied, entblößt als den Künstler. Interviews mit ihm führten, auch wenn er sich ihnen mit großem Ernst widmete, selten zu klaren Aussagen. Er war sicherlich kein eloquenter, jovialer Plauderer. Abgesehen davon, dass die Journalisten oft schon mit der Entschlüsselung seines vernuschelten jamaikanischen Patois kämpften, das auch in lautschriftlicher Transkription nicht leicht zu entziffern ist, ließ sich Marley von profanen Fragen kaum in seinem spirituellen, stets THC-befeuerten Eifer bremsen. Nirgends äußerste er sich eindeutiger, präziser und kraftvoller als in seinen Songs.

Robert Nesta Marley wurde am 6. Februar 1945 in Nine Miles im ländlichen Distrikt St. Ann auf Jamaika als Sohn eines weißen Soldaten der British Army, der damals die Fünfzig schon überschritten hatte, und einem schwarzen , nicht mal volljährigen Mädchen geboren. 1957 folgte er seiner Mutter nach Trench Town, ein Elendsviertel in Kingston, und wurde erstmals mit dem Leid der verarmten schwarzen Bevölkerung, der „sufferahs“, konfrontiert, die sich vom Umzug in die Stadt eigentlich eine gute bezahlte Arbeit erhofft hatten. Dort traf er Bunny „Wailer“ Livingston und später auch Peter „Tosh“ McIntosh und bildete in damals noch wechselnden Besetzungen die Urformation der (Wailing) Wailers.

Mit 16 Jahren, 1962, stand Marley auf Vermittlung des noch jüngeren Jimmy Cliff, der damals als Talentscout arbeitete, zum ersten Mal im Studio von Leslie Kong und nahm für dessen „Beverley’s“-Label drei Songs auf: Das selbstverfasste „Judge Not“ („I know that I’m not perfect / and that I don’t claim to be / So before you point your fingers / be sure your hands are clean“), „One Cup of Coffee“ (die letzte Tasse, bevor er schweren, gebrochenen Herzens die Liebste verlässt), und das unveröffentlicht gebliebene „Terror“, das, so berichten Ohrenzeugen, das Leiden der schwarzen Bevölkerung Jamaikas anprangerte. Liebe, die individuelle und soziale Gerechtigkeit – hätte er bei der Session noch einen Gospel eingesungen, wären alle seine Leit- und Lebensthemen bereits zu dieser frühen Stunde greifbar gewesen.

1963 nahm Clement „Sir Coxsone“ Dodd, legendärer DJ und Gründer des Studio One, die jungen Wailers unter seine Fittiche. Nach dem Durchbruch mit ihrer ersten euphorisierenden Ska-Single „Simmer Down“, die die Sprache der Rude Boys (junger Rabauken und Kleinkrimineller auf den Straßen Kingstons) sprach und für zwei Monate an der Spitze der JBC Radio Charts thronte, nahm die Gruppe bis 1967 über 70 weitere Songs (inklusive der Tracks der etwas erratisch zusammengestellten Debüt-LP „The Wailin’ Wailers“) für Coxsone auf, Rude Boy-Hymnen, Gospel, Doo Wop, Beatles und Dylan-Covers, selbst „What’s New Pussycat“; diese sorgten regelmäßig in den Charts und Dancehalls für Aufregung, ließen allerdings nur die Kasse des Produzenten klingen. Bis die Wailers 1972 bei Chris Blackwells Island-Label unterschrieben, sollten noch unzählige Aufnahmen für Labels wie JAD, die Wailers-eigenen Wail’N’Soul’M und Tuff Gong sowie für Produzenten-Enfant terrible Lee Perry folgen. Die von Perry 1970 beispiellos unverschnörkelt, dicht und eigenwillig produzierten LPs „Soul Rebels“ und „Soul Revolution“ halten nicht wenige Kritiker für die musikalisch herausragendsten Takes in Marleys gesamtem Schaffen. Als Leslie Kong im August 1971 Archiv-Aufnahmen aus der Prä-Perry-Phase gegen den Willen der Gruppe unter dem Namen „The Best of the Wailers“ veröffentlichte, handelte er sich, so heißt es, einen Todesfluch von Bunny Livingston ein, ihn ereilte eine Woche später im Alter von 38 Jahren ein Herzinfarkt. Stoff für Legenden. Die LP selbst wird dem Titel natürlich nicht gerecht, funktioniert aber wunderbar als kohärentes Album und enthält angefangen bei dem infektiös groovenden „Soul Shakedown Party“ durchgehend hörenswertes Material.

Gerade mit Blick auf die frühen Jahre der Wailers vor ihrem internationalen Durchbruch drängt sich die Frage auf, wie bedeutsam ihr Beitrag zum Sound der Insel eigentlich war. Während Biographien mitunter den Eindruck erwecken, dass jegliche Musik Jamaikas von Marley seinen Ausgangspunkt genommen hat, beginnt in Lloyd Bradleys grundlegender Reggae-Kulturgeschichte „Bass Culture“ das Kapitel über ihn erst im letzten Drittel. Ein Großteil der Entwicklung von Ska, Rocksteady und Reggae kann tatsächlich trefflich anhand von Produzenten und Sound System-DJs wie Duke Reid (Treasure Isle), Coxsone Dodd (Studio One), Prince Buster und Leslie Kong erzählt werden, die die Geschicke von prägenden Musikern wie den Studio-Assen Skatalites, Sängern wie Alton Ellis und Jackie Opel und Gruppen wie den Maytals, Paragons, Heptones oder eben den Wailers lenkten. Zu Rocksteady-Hochzeiten, ca. 1966-68, waren die Wailers durch Marleys US-Aufenthalt und ihre Abwendung von Studio One wenig präsent; auf dem Soundtrack zu „The Harder They Come“ (1972), der bedeutendsten Early-/Roots-Reggae-Kompilation (und bis zur Veröffentlichung von „Legend“ im Jahr 1984 weltweit bestverkauften Reggae-LP), sind sie nicht vertreten.

Mit „Catch A Fire“ auf Island betrat Marley im April 1973 die Weltbühne, sein Sound wurde rock-kompatibel, er dachte in Alben, nicht mehr in Singles, und entwickelte – spätestens als die weiblichen I-Threes Tosh und Livingston ab der „Natty Dread“-LP als Background Sänger ablösten, einen relativ homogenen – jedenfalls für jamaikanische Verhältnisse – statischen Trademark Sound, der vor allem von den weiterhin exzellenten Songwriter-Fertigkeiten Marleys getragen wurde. Der unermüdlich kreative Perfektionist strebte legitimerweise die größtmögliche internationale Aufmerksamkeit für seine Musik und seine Botschaften an, tourte monatelang in den USA und Europa, lebte zeitweise – auch vor dem Hintergrund der eskalierenden politischen Gewalt auf Jamaika – im Exil und verlor so nach und nach den Anschluss an die Schnelllebigkeit der Dancehalls-Sounds der Insel. Spätestens ab dieser Zeit wurde Marley der alleinige, unabhängige Herrscher eines musikalischen Zwischenreichs, der weder mit den Maßstäben der westlichen Rock- oder Soulwelt noch des Reggae zu erfassen ist. Abgesehen davon ist sicher nicht alles, was er je aufgenommen hat, essenziell, gerade ab Mitte der 70er findet sich thematisch und klanglich redundantes, das Gespür für konkrete Szenen, Personen, Details, wie sie etwa in „Trench Town Rock“, „Concrete Jungle“, „No Woman No Cry“ oder „Is This Love“ evident sind, wich mitunter Slogans. Das Fehlen des gruppeninternen Wettbewerbs mit Tosh und Livingstone mag sich nun ausgewirkt haben. Doch bis zu seinem allzu frühen Tod 1981 in Folge einer Krebserkrankung hat Marley trotz seiner immensen Produktivität keine wirklich schlechte, jedenfalls keine falsche Platte veröffentlicht.

Bob Marley And The Wailers – (die) zehn (der) besten Prä-Island-Singles:

 1. Trench Town Rock (Tuff Gong)

 2. One Love (Coxsone)

 3. Bend Down Low (Wail’N’Soul’M)

 4. Simmer Down (Coxsone)

 5. Steppin Razor (Wail’N’Soul’M – Peter Tosh on voc.)

 6. Duppy Conqueror (Upsetter)

 7. Stir It Up (Wail’N’Soul’M)

 8. Small Axe (Upsetter)

 9. Soul Shakedown Party (Trojan)

 10.Dreamland (Upsetter – Bunny Wailer on voc.)

Der Autor ist Mitglied des Rolling-Stone-Forums und Redakteur des unabhängigen Popkulturmagazins get happy!? (www.gethappymag.de).

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