Hello Gravity: „Wunderkind“ mit Understatement

Warum denn immer in die Ferne schweifen? Diesen Artist To Watch aus Schrobenhausen fanden wir im Mai im Vorprogramm der zauberhafen Oh Land. Nun erscheint ihr Debüt "Wunderkind". Ein guter Anlass für ihr erstes Interview mit dem Rolling Stone.

Berlin, 26. Mai: Kurz vor dem Auftritt der wild gepypten dänischen Künstlerin Oh Land. Doch zuerst sind Vorband Hello Gravity an der Reihe. Sänger Mike Zitzelsberger tritt ans Mikrofon und schaut schüchtern in das Publikum, das natürlich in erster Linie die hübsche Dänin sehen will: „Hi, wir sind Hello Gravity aus Schrobenhausen. Meistens sagen wir aber, wir kommen aus München. Schrobenhausen kennt ja keiner…“

Hello Gravity, das sind also vier Jungs aus Bayern. Mike singt, sein Bruder Tom spielt Bass. Felix Koch ist der Mann an der Gitarre und im Backgroundgesang, am Schlagzeug sitzt Simon Popp. Sie sind alle um die 20 Jahre alt, tragen Röhrenjeans und – bei ihren Auftritten – Schminke im Gesicht.

Das will natürlich so gar nicht zum blau-weißen Freistaat passen. Dennoch haben sie sich über die Jahre zu Lokalhelden gemausert. In der einer beliebten Bar der nahe gelegenen Stadt Pfaffenhofen, in der sich die Autorin mit Mike und Simon zum Interview traf, wurden die beiden sogleich von der Servicekraft erkannt. „Ihr habt doch erst neulich im Splendo gespielt?“, fragt sie und wartet die Antwort gar nicht erst ab. „Mei, wir können echt stolz sein, dass so eine Band bei uns aus der Gegend kommt.“

Die Band textet in englischer Sprache – aus Gewohnheit und persönlichem Gusto, das Englisch sei zum Singen einfach schöner als das schnöde, harte Deutsch. Dennoch zeigen sich Mike und Simon im Gespräch heimatverbunden: Nach typisch bairischer Art verschlucken sie Endungen, rollen das „r“ und sagen Sätze wie: „Des werd scho.“

Auch beim Auftritt im Berliner Privatclub im Mai ist es dann noch geworden. Mehr und mehr Menschen sind in den Keller des Clubs geströmt – und sie alle haben trotz der heißen und stickigen Luft zur Musik des Quartetts getanzt.

Am 26. August kommt nun das Debüt in die Läden. „Wunderkind“ wird es heißen. Es ist eine verträumte Indiepop-Platte geworden. Auf „Wunderkind“ findet man zum Beispiel den fröhlich-verliebten Popsong „Carlotta“ mit glockenhellem Gesang, lebendigem Schlagzeug und optimistischen Gitarrenspiel – den ein oder anderen wird das sicher an die Band Miles erinnern. Aber sie können auch andere Schubladen. „In the Morning“ wiederum erinnert ein paar Schrecksekunden lang an einen frühen Blink 182-Song, entwickelt sich dann aber mit scharrenden Synthesizern und dreschenden Drums in ein elektrischen Post-Punk-Song.

Die Tour mit Oh Land, das Debüt „Wunderkind“ – kein schlechter Start für Hello Gravity.

White Lies by HelloGravity

Warum der Titel „Wunderkind“?

Mike Zitzelsberger: Wir wollten einen deutschen Namen für das Album, um unsere Wurzeln zu verdeutlichen. Trotzdem ist „Wunderkind“ aber auch ein international verständliches Wort, das es ja auch im Englischen gibt. Wir haben uns um den Albumtitel erst relativ spät Gedanken gemacht, aber nachdem wir die fertige Platte zum ersten Mal komplett gehört hatten und dann das fertige Artwork gesehen haben, hat dieser Titel einfach wie die Faust aufs Auge gepasst.

Simon Popp: „Wunderkind“ auch deswegen, weil der ganze Prozess – wir haben jetzt ein Label und waren im Studio um unser erstes Album aufzunehmen – für uns ein Wunder war. Also, es ist nicht so, dass wir uns als Wunderkinder sehen, aber die Platte schon. Sie ist ja auch quasi unser Kind.

So mancher mag mäkeln, dass Hello Gravity nur eine weitere Indie-Band von vielen ist. Was unterscheidet euch eurer Meinung nach von den anderen Bands der Szene?

Mike: Uns war schon immer wichtig – jetzt bei „Wunderkind“ und auch wenn wir live spielen – unseren eigenen Charme zu entwickeln, nicht nur wir persönlich, sondern auch in unserer Musik. Ich denke, dass wir das auf dem Album auch ganz gut geschafft haben. Klar, diese Indie-Welle ist total da, und alle Indie-Bands sind plötzlich super und überhaupt will jetzt jeder schon seit hundert Jahren Indie gehört haben. Wir wollen im Endeffekt aber unser eigenes Genre kreieren, und dass sich die Leute das anhören können ohne gleich das Genre zu analysieren und was für eine Musikrichtung dahinter steckt.

Wenn ihr tatsächlich euer eigenes Genre schaffen wolltet, wie würdet ihr das Kind denn taufen?

Mike: Unsere Musik lebt eigentlich von Gegensätzen: Zum einen haben wir verträumte und verspielte Melodien und schöne Gitarren, aber dann eben auch diesen präsenten Beat und diese energischen Synthies. Das passt eben eigentlich auch gar nicht so gut zu meinem Mädchengesang (lacht). Wir haben eben im Studio rumprobiert, und das ist dabei rausgekommen. Wenn man auch genauer darüber nachdenkt, dann passt das auch zu unserem Bandnamen: „Hello“ steht für das offene, warme, „gravity“ dann eher für das bodenständige, präsente. Ich glaube „Dream Wave“ wäre ein ganz guter Name dafür, eine Kombination aus Indie, New Wave und (lacht) Heavy Metal.

Wie funktioniert das Songwriting bei euch?

Mike: Es gibt keinen richtigen Songwriter bei uns, der mit seiner akustischen Gitarre in den Proberaum kommt und sagt: „Hey, ich hab den coolsten Shit, ich hab auch das Schlagzeug und alles schon geschrieben, ihr müsst eigentlich nichts mehr machen, sondern nur noch spielen.“ Jeder von uns hat seinen eigenen Bereich, in dem er am besten ist, und einer von uns fängt dann eben mit dem Prozess des Schreibens an. Das kann dann auch der Simon mit dem Schlagzeug sein und wir spielen dann etwas drüber. Gitarre, Bass, Schlagzeug, Synthesizer, Vocals… so sind auch alle Songs auf dem Album entstanden .

Was würdet ihr als eure Einflüsse bezeichnen?

Simon: Grundsätzlich ist es ja so, dass man versucht, oder zumindest wir versuchen, eine bestimmte Stimmung zu treffen. Dazu gehört für uns natürlich nicht nur die Musik dazu, die wir gerade hören, sondern auch alles, was in unserem Leben gerade so passiert. In unserem Alter sind das dann eher die Standardthemen: Weggehen, Mädels und so weiter. Das ist ja auch ganz normal.

Mike: Wir haben eben auch viele musikalische Einflüsse – aber es ist jetzt überhaupt nicht so, dass wir einen Song hören, „Run Run Run“ von Phoenix etwa, und dann denken: „Krass, so einen Song müssen wir auch schreiben!“ Wir konzentrieren uns da auch wirklich nicht auf Genres, sondern eher auf Stimmungen – jeder Stil kann mit verschiedenen Elementen dieselbe Stimmung erzeugen. Heutzutage ist es allerdings so, dass – zumindest meiner Meinung nach – Filme uns sehr beeinflussen, beziehungsweise alles, was mit Bildern zu tun hat. Als moderner, junger Mensch ist man auch einfach verwöhnt: Musik muss irgendwo visualisiert sein und wird auch ständig visualisiert. Vor allem seit es Musikvideos gibt: Wenn eine Band ihren Song im Internet zum Stream freigibt, dann ist das schon cool, aber sobald es ein Musikvideo dazu gibt…

Wo seht ihr euch in zwei, drei Jahren?

Mike: In zwei, drei Jahren… hm. Wie gesagt wir konzentrieren uns jetzt erst einmal auf den Release von „Wunderkind“. Es ist ja auch so, dass du schon vorausplanen kannst, aber was dann im Endeffekt die nächsten Schritte sind, das muss sich erst noch entwickeln. Wir wollen auf jeden Fall weiter zusammen Musik machen, am besten dann noch ein Album herausbringen.

Was ist denn eure persönliche Benchmark, der Punkt, den ihr erreichen wollt?

Simon: Also, ich möchte einfach nur von der Musik leben können und weiterhin Spaß daran haben. Dieses Zusammenspielen mit der Band ist wirklich selbsterfüllend, wir machen das nicht, um reich und berühmt zu werden, sondern weil es einfach unser Ding ist. Deswegen wäre es so das Nonplusultra für mich.

Wenn ihr es euch aussuchen könntet: Mit welchem Künstler oder Band würdet ihr am liebsten auf Tour gehen?

Mike: The Cure. Da sind wir uns auch alle vier einer Meinung, denke ich. (Simon nickt bestätigend) Wir lieben die Musik und würden die Band gerne kennenlernen, ein bisschen mit ihnen Backstage rumhängen… Sie sind ein Vorbild für uns, und ich als Sänger, ich liebe die Stimme von Robert Smith.

Vier Dinge, die man als junge Band nicht tun sollte:

Mike: Ich finde, man darf seine Wurzeln nicht verleugnen. Es hat ja jetzt – wenn wir mal von deutschen Bands ausgehen – immer schon große Künstler aus Deutschland gegeben, und die sollte man als junge, deutsche Band einfach nicht vergessen. Dann sollte man noch Bandcontests vermeiden. Bandcontests sind alle blöd, wir haben bisher auf keinem guten Contest teilgenommen. Alles totale Abzocke! Es funktioniert auch gar nicht, wenn man versucht verschiedene Bands aus verschiedenen Genres zu vergleichen. Das geht einfach nicht. Wer ist da dann der Beste? So funktioniert Musik eh nicht. Wenn man der Beste sein will, dann soll man Sportler oder so etwas werden, wo man das auch messen kann.

Simon: Man sollte auch nicht bei anderen Bands klauen. Viele imitieren so stark, dass man einfach merkt, woher das Lied stammt. Das geht ja dann komplett an der Kunst vorbei, wenn man jemanden imitiert. Man muss halt sein eigenes Ding finden.

Mike: Und Grund dafür, Musik zu machen sollte nicht sein, reich und berühmt werden zu wollen und möglichst viele Mädels abzuschleppen.

Was ist euer persönlicher „Artist to Watch“? Wen sollen wir noch im Auge behalten?

Simon: Alin Coen. Die ist jetzt zwar nicht unbedingt eine unbekannte Künstlerin, aber wie ich finde, immer noch eher ein Insider Tipp. Die macht echt schöne, deutsche Popmusik.

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