Herr Biolek, bitte übernehmen Sie!

Die Frühjahrsoffensive: BENJAMIN VON STUCKRAD-BARRE veröffentlicht zugleich die Lese-Dokumentation „"Transkript" und die Lese-CD „Voicerecorder"

Wir sehen zwei Männer. Männer des Wortes, Männer der Tat, Männer der Macht. Der eine war Staatsminister für Kultur und trägt oft große Schals und Hüte. Er ist berühmt für seine Cäsarenfrisur. Der andere ist Schriftsteller, trägt Anzüge und Turnschuhe und ist berühmt für seine raspelkurzen Haare. In der berühmten Berliner „Paris Bar“ trafen die beiden Kulturschaffenden beinah aufeinander: Michael Naumann und Benjamin von Stuckrad-Barre. Sie schauten in verschiedene Richtungen. Was hätten sie einander zu sagen gehabt?

Stuckrads jüngstes Buch „Transkript“, ein Nebenwerk im Reclam-Format, verrät es nicht Michael Naumann kam zu keiner Lesung des Autors, und Stuckrad las keine Besinnungsaufsätze des „Zeit“-Herausgebers vor. Da geht noch was! „Transkript“ (kiwi, 9,90 Mark) enthält dafür Beiträge von Charlotte Röche, Rainald Goetz, Ulrich Wickert, Alfred Biolek und Johannes B. Kerner – alle lesen etwas bei den Stuckradschen Performances oder unterhalten sich irgendwo mit ihm. Der große Helmut Berger ist gleich zweimal dabei, ohne es zu wissen: Stuckrad liest aus seiner unglaublichen Biografie „Ich“ eine Passage über einen peinlichen Schiss in der weißen Hose bei einem Ball in Monaco, den Berger neun Stunden vor der Feiergesellschaft verbarg. Auch ist Bergers legendärer Auftritt bei „Alfredissimo“ dokumentiert, wo der alte Kokser souverän die Küche beherrschte und noch Zeit fand, zwischendurch ans Telefon zu gehen: „Hallo Paris!“ Es ist nicht ausgemacht, welcher Koch schwuler war.

Stuckrad, der sich geschworen hat, kein Jahr mehr ohne Buch vergehen lassen, hat sich diesmal für eine beinahe geheime Publikation entschieden: Der schmale Band – der seine jungen Fans nicht bloß an die Schulzeit erinnern wird, weil sie gerade noch über dem „Gallischen Krieg“ sitzen – ist ein Potpourri von Texten aus den einschlägigen Büchern, Zeitungssalat, eingespielten Pop-Songs und einem Stimmengewirr, an dem jeder teilhat, der mal vorbeikam. Dokumentiert wurde der mediale Wahnsinn bei den Lesungen, so dass mancher Zwischenrufer sich im Text wiederfinden wird. Mithilfe der für Reclam charakteristischen Fußnoten („Marginalien“) werden die Zusammenhänge erklärt, die Quellen erläutert – die perfide Rache des Universitäts-Flüchtlings Stuckrad am akademischen Gebaren. Sieht ganz schön wissenschaftlich aus!

Man kann es auch einen echten Wissenschaftler sagen lassen – Dr. Ulf Poschardt, Freund des gefeierten Borderline-Journalisten Tom Kummer, formuliert es mundgerecht: „Barres performativer Gestus stößt die verfängliche Festigkeit seiner Schriften in die immer wieder zur Offenheit drängende Ungenauigkeit von Standup-Pointen und situativen Interventionen.“ Jawoll!

Auch auf der schön becoverten CD „Voicerecorder“ (entsprechend der „Blackbox“ des letzten Buches) lässt der Entertainer performativ die Ungenauigkeit zur Offenheit drängen. Es krängt sich der Wortwitz, es biegen sich die Bretter. Die Aufnahme (Mundraub) ist Reminiszenz an die Lesungen im letzten Jahr, die mit reichlich Kollegen, Bekannten und Prominenten improvisiert über die Bühne gingen. Und wer sich daran erinnern kann, der war wahrscheinlich auch dabei.

Seymour Glass

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