„Ich hätte uns gehasst!“

Zum neuen Album wagen Selig einen Rückblick auf die Neunziger. Heute freuen sie sich, einfach da sein zu dürfen, wie Jan Plewka sagt.

Für ihr zweites Album nach der Reunion, „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“, sind Selig für sechs Monate in ein Berliner Studio eingezogen. Jungs-WG, Künstlerkommune – man muss sich Zeit lassen und den Moment genießen, das ist eine Lehre, die Selig aus der eigenen Geschichte ziehen. Ein Gespräch mit Sänger Jan Plewka und Bassist Leo Schmidthals über Höhe, Breite und Tiefe der seligen Welt.

Gibt es ein Thema auf dem neuen Album? Der Titel macht ja einen gro-ßen Rahmen auf.

Plewka: Der Grundakkord ist Leichtigkeit. Wir versuchen eine schwer gewordene Welt etwas leichter zu machen. Man hört richtig, wie wir aufsteigen. Als würden wir an einem Zeppelin hängen und auf die Welt runter sehen.

Und was seht Ihr?

Plewka: Wir sehen, dass wir viel Glück hatten und seit unserer Wiederzusammenkunft viel Gutes erlebt haben. Die-se Leichtigkeit möchten wir der Welt wiedergeben. Wir sind wie Gaukler, die in ihrem Wagen durchs Land fahren, Theater spielen und Medikamente verteilen. Unsere Liebeslieder können ja eine heilende Kraft haben – für Leute mit gebrochenen Herzen, dass sie sich nicht mehr so allein fühlen.

Ihr überblickt jetzt schon seit fast zwei Dekaden den deutschsprachigen Pop aus dem Inneren der Musikwelt. Was sind eure Erkenntnisse?

Plewka: Die Oase Selig ist praktisch ohne Einflüsse von außen entstanden – Moden haben keine Rolle gespielt. Wir waren eine Retro-Band, haben Hendrix gehört und Deep-Purple-Videos geguckt und uns unsere eigene Welt gestrickt. Die Hamburger Schule, die die guten Sachen der Neuen Deutschen Welle aufgegriffen hat, da waren wir zum Beispiel nie dabei.

Aber Ihr habt deutsch gesungen, als das kaum eine andere deutsche Rockband getan hat.

Plewka: Das stimmt. Als wir anfingen, haben wir schon gesagt, lass uns mal eine Bresche für die deutsche Musik schlagen. Es gab Grönemeyer und die Toten Hosen, also so ältere Musiker. Wir wollten aber zeigen, dass es auch junge deutschsprachige Rockmusik geben kann. Wir haben uns damals eine bunte Republik vorgestellt – eigentlich genau die, die wir jetzt haben.

Ein kleines Spiel: Erzählt mir die Geschichte von Selig anhand von fünf Liedern – eines pro Album.

Plewka (überlegt): Beim Debüt wäre das „Sie hat geschrien“. Wir sagten uns, lass uns mit deutscher Sprache aufrütteln, irgendwie anders sein. Das Lied stand in Bayern auf dem Index – die wussten nicht, geht’s da um Abtreibung oder Kindesmissbrauch? Diese verrätselten Texte, das war damals neu.

Schmidthals: Anders sein, aufrütteln, das war insgesamt die Philosophie der Band, wir wollten es so dermaßen wissen! Voll auf die Zwölf, mit allen Köpfen durch die Wand, das war Selig.

Plewka: Und diese Klamotten! Oh, Mann. Ich hätte uns auch gehasst.

Dann kam „Hier“. Welches Lied?

Plewka: „Lass mich rein“. Das ist ja fast wie eine Satansanbetung.

Schmidthals: Wir haben damals richtig Rock’n’Roll gelebt, mit allem Drum und Dran. Wir hatten den Erfolg, von dem wir geträumt hatten, waren auf Tour und liefen bei MTV. Bei „Lass mich rein“ hört man, wie die Dämonen in die Band fuhren. Auf der nächsten Platte haben sie uns dann geritten.

Auf „Blender“, der Platte vor dem Split.

Schmidthals: Wir haben in New York aufgenommen, wurden größenwahnsinnig, haben jede Menge Geld verbrannt.

Welches Lied verbindet ihr mit dem Comeback?

Plewka: „Wir werden uns wiedersehen“. Die Wunden brechen auf, wir reden miteinander, es geht wieder los.

Und auf dem neuen Album?

Plewka: Auf jeden Fall „5.000 Meilen“. Wir steigen auf und können die ganze Selig-Zeit von oben sehen. Müssen nichts mehr beweisen, dürfen einfach da sein. jörn schlüter

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