Identitäterä

Auf der 1. Ost-Musik-Messe in Berlin ließen die Entwurzelten totqehoffte Kulturgüter auferstehen

ALs Ostler müßte man das eigentlich verbieten“, stöhnt Michael Rudolf, „wenn man das hier so sieht, dann darf man sich gar nicht wundern, wenn die Westler uns alle für bekloppt halten.“ Den Worten des 54jährigen Autors und Verlegers aus Greiz ist nur schwer zu widersprechen: Was man vom 23. bis zum 25. Februar auf der „1. Verkaufsmesse und Kontaktbörse für Musik aus dem Osten“ am Berliner Alexanderplatz so um die Ohren gehauen bekommt, hat schon den Charakter einer Selbstbezichtigung. Kein potentielles Vorurteil bleibt unbestätigt, kerne Drohung uneingelöst, und was das Ärgste ist: Die Protagonisten tun es freiwillig, und sie tun es gern.

Aufgeboten haben die Veranstalter ein Gutteil dessen, was die DDR-Kultur so scheußlich machte: Die schwülstige Poesie-Rock-Kapelle Karat, von der die ersten hundert Besucher der Messe eine LP von 1989 nachgeworfen bekommen; die Stern Combo Meissen, seit mehr als 30 Jahren mit verstiegenem Elektronik-Geknörmel beschäftigt, und natürlich die gefürchteten Puhdys. Bei der bloßen Nennung ihres Namens gerät Michael Rudolf in Rage: „Die Puhdys waren schon immer ein veritables Brechmittel! Aber ich habe niemals, hörst du: niemals! eine Platte von denen besessen!“ Das muß das Schlimmste sein am Dasein eines Ex-DDR-Bürgers: diese panische Furcht davor, man könnte für einen von denen gehalten werden, die im Westen immer nur spöttisch „Der Doofe Rest“ hießen.

Über andere Kulturschaffende hatte ein freundliches Schicksal längst schon die Gnade des Vergessenwerdens gebreitet; das Festival der Untoten aber zerrt sie noch einmal ans Licht. Das bekommt ihnen nicht gut: Die Sängerin Dina Straat zum Beispiel tritt in einem Erzeugnis der Firma Latex-Wurstpellen und silbernen Stiefeln an, und beim Anblick der mittleren Dame sucht man verzweifelt Trost im Reim: Wenn ostdeutsche Frauen / sich Mode trauen / dann wird aus Mutti / auch heute noch Nutti.

Frau Straat immerhin scheint das zu ahnen: „Das ist natürlich eine ganz besondere Sache, zu so einer Messe sich selbst anzubieten. Da muß man erstmal drübersteigen“, bringt sie ihre Situation ziemlich genau auf den Punkt, vertreibt die aufkommende Klarheit aber fix wieder: „Aber was soll’s, ich fühl mich gut“, behauptet sie, obwohl man ihr das Gegenteil ansieht. „Schön, daß ihr da seid“, sagt sie zu den etwa 15 Zuschauern im Saal, die bereit sind, sich schon früh am Tag das Vollplayback eines Schlagers mit dem Titel „Eins und eins macht nicht immer zwei“ anzuhören. Warum tun Menschen sowas?, fragt man, und trollt sich mit einer Mischung aus Beißhemmung, Mitleid und Erbitterung über den Mangel an Würde und Stil in der Welt ins Untergeschoß, zum „Talk mit Prominenten“.

Dort sind mittlerweile Karat am Start, die noch heute stolz darauf sind, in den 80er Jahren von Peter Maffay gecovert worden zu sein; ihr „Über sieben Brücken mußt du gehn“ hatte der Kitschgroßhändler Maffay nicht weniger unangenehm interpretiert als Karat selbst. Überhaupt würde Maffay bestens hineinpassen ins Defilee der Zonen-Zombies, in diesen Kosmos, der so überzeugend die Auffassung widerlegt, Popmusik hätte irgendetwas mit Sex-Appeal zu tun. Am heftigsten aber vermißt man in diesem Gruselkabinett die Sülzwurstkaiser der schwäbischen Band Pur, die die Verostung der Musik bisher weiter vorangetrieben haben als irgendeine Band aus dem Osten selbst. „Komm mit ins Abenteuerland, der Eintritt kostet den Verstand“, lockt der letzte Pur-Hit; diesen in vielen Fällen äußerst geringen Obolus haben Millionen von Insassen des Landes – die meisten von ihnen übrigens aus dem Westen – schon längst und nur allzu freudig entrichtet.

Es gibt ja viele verschiedene Sorten Irrsinn, aber die spezifisch ostdeutsche ist auch nicht ohne. Auch die Behauptung, es sei „viel Identität weggebrochen“ seit ’89, darf in den Talkrunden nicht fehlen. Man hat ja schon manches weggebrochen in seinem Leben; eine Identität aber war bisher nicht dabei. Und doch rennt der Deutsche kollektiv der Schimäre einer „Identität“ hinterher, die ja allein darin besteht, daß er ihr kollektiv hinterherrennt.

Zwecks Identitätsfindung sind auf der Ost-Messe viele Stände aufgebaut, an denen man eine Scheibe Identität erwerben kann: Amiga-Muffrock wird feilgehalten, und das Publikum, das im Laufe der drei Tage auf mehrere Tausend anschwillt, langt zu: Wer einmal aus dem Fettnapf aß, will nicht mehr davon lassen.

Und so kommen sie noch einmal unter die Leute, die DDR-Schlager-Stars Julia Axen, Tino Eisbrenner und Maja-Catrin Fritsche, die beschwört: „Heute fängt mein Leben an“ – das ist sichtlich gelogen, aber dafür „eine Welturaufführung“, wie der ölige Moderator prahlt.

Inzwischen hat ein Wurstbräter damit begonnen, kleingeschnittenes, schweinernes Fleisch knusprig und kross zu brutzeln, es also möglichst kohlrabenschwarz zu verbrennen. Rauchschwaden durchziehen die Ausstellungsräume und locken Hunderte an, die es nach solchen Leckereien gelüstet; denn so mag er’s, der Bewohner der Fünf Neuen Imbißbuden. Zauselige Knebelbärte sieht man vorbeistreichen, Menschen, die sich trotzig dem Diktat der Westmode verweigern und stofz ihren duckmausgrauen Kunstfaseranorak und die schlammfarbene Stiefelette spazierenführen. Neben dem Gros der Mittelalten sieht man auch einige Jüngere, bei denen das Palästinensertuch Trumpf ist -jener rot- oder schwarz-weiße Feudel, dessen Träger stets die Frage evozieren: Antisemitismus oder Abwaschdienst? Die aktiven Teilnehmer der Messe dagegen haben sich beinahe durchweg in Lederhosen gezwängt; bevorzugt wird das schwarze, an den Außenseiten zu schnürende Modell, denn irgendwo steht geschrieben, daß Rockmusiker solche Hosen tragen müssen, damit man sie auch als Rockmusiker erkennt. Abgerundet wird dieses Erscheinungsbild durch eine gern auch schüttere Vokuhila-Frisur, und wer sich dazu noch eine Baseballkappe, möglichst mit Schirm nach hinten, aufsetzt oder sich einen Lappen um den Kopf wickelt, läßt nicht den geringsten Zweifel daran, daß er für einen Rockstar gehalten werden will. Und so, wie sie aussehen, so reden sie auch. „Es geht mir gut, denn ich habe zu tun“ ist der Kammerton, der hier angeschlagen wird; „Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück“, spottete schon Gottfried Benn. „Nicht alle Ost-Stars kamen gut über die Wende: Holger Biege und Petra Kusch-Lück könnten ein Lied davon singen , schrieb die auf Ostkundschaft zielende „Berliner Zeitung“ verständnistriefend; es kam noch schlimmer als avisiert. Holger Biege, Petra Kusch-Lück und viele andere nämlich tun es auch, das mit dem Lied davon singen, beschränken sich aber keineswegs auf nur eins, sondern folgen der Losung: Schafft drei, vier, viele pampige Lieder!

Nur der Text ist stets derselbe: Schluchz buhu, keiner hat uns lieb, alle Westler sind ignorant, was man daran erkennen kann, daß sie uns und unsere Musik nicht mögen; der Gedanke, daß man das mit seiner Ostigkeit angebende Zeug nicht leiden kann, gerade weil man es kennt, verirrt sich in keinen Kopf. Statt dessen wird stumpf die Durchhalteparole ausgegeben: Alle Ostler müssen zusammenhalten, denn die, so sagt es Sänger Gerd Christian, „sind ehrlich und aufrichtig“, es sei denn, „sie waren zu lange im Westen“. Es ist schon verblüffend, wenn man sich das Winnetou-Getue, das man sonst von Wolfgang Thierse kennt, plötzlich von einem Kerl anhören muß, der ein dickes Goldkettchen überm Hemd trägt und nach seiner „Ich bin immer Ostler geblieben!“-Arie nahtlos zu singen beginnt: „Hallo, Mary-Lou, sieh mal an, dein Kleid ist schick und schick sind deine Schuh…“, ein Lied, das doch eher belegt, daß zumindest das Grauen aus den beiden Teilen Deutschlands so zusammengewachsen ist, wie es wohl zusammengehört.

Die einzige Ausnahme in der euphemistischen Ostsoße macht ausgerechnet der Schlagersänger Frank Schöbel. Im Interview mit der singenden Moderatorin Tina Daute, die in bestem Moderatorendeutsch von der „bestverkauftesten CD“ und der „bestgekucktesten Show“ fabuliert, läßt er sich trotz aller Drängelei nicht dazu bringen, den doofen Jammerossi zu machen. Höflich und professionell besteht er darauf, nicht mehr zu sein als das, was er nun mal ist, ein Schlagersänger, ein Mann der leichtesten Muse, der ohne zu schleimen den Eindruck erweckt, er sei der nette Typ von nebenan.

Doch das kurze Aufflackern von Erträglichkeit hält nicht lange vor. Zusehends gerät die Angelegenheit zur Streckfolter; eingefleischte Pazifisten entwickeln tiefes Verständnis für Amokläufer; Auf der zweiten Bühne tritt gerade ein Duo auf, das sich „Sensible Moments“ nennt und peinlicherweise nicht weiß, daß „sensible“ keineswegs sensibel heißt, sondern vernünftig; ein ums andere Mal gehen die beiden Musiker mit ihrer „Sensibilität“ hausieren, wegen der sie sich ja auch „Sensible Moments“

genannt hätten.« – man möchte mit dem Kopf gegen die Wand schlagen, immer und immer wieder, bis es aufhört, weh zu tun.

Drei Tage dauert es, dann ist die schwere Prüfung vorbei; nach Gruppen, die „Drei Liter Landwein“ oder „Ulf und Zwulf“ heißen, müssen als Höhepunkt die Topstars des Ostens ran, die Puhdys, die einzigen, die „es“ geschafft haben – wenn auch nicht ganz klar ist, was „es“ nun genau sein soll: Reklame für ein nach Harn schmeckendes Berliner Bier („Gutes setzt sich durch“) oder das Komponieren einer diktaturkompatiblen Mitbrüllhymne für Peter Michael Diestels Fußballclub FC Hansa Rostock? Die beiden anwesenden Puhdys-Mitglieder entblöden sich jedenfalls nicht, diese Brotarbeit als Playback vorzuführen und ihr Publikum ist darüber ganz aus dem Häuschen. Denn die Puhdys verdienen mit ihrem amusikalischen Gerumpel Geld, und das reicht völlig aus, um diejenigen Ostler, die das nicht oder weniger tun, schwer zu beeindrucken.

Oder, wie die unvergleichliche Tina Daute es formuliert: „Seit 25 Jahren sind die Puhdys das Spiegelbild ostdeutscher Befindlichkeit. Sie machen keinen Hehl aus ihrer ostdeutschen Identität.“ Wie denn auch, wenn man so aussieht und klingt?

Auch die Beleidigung, von den Puhdys quasi symbolisiert zu werden, nimmt das Publikum hin, zumal es die Invektive gar nicht als solche empfindet. Geborgen in seinem eigenen Mief schunkelt der Ostmensch; autistisch sich wiegend steht er in der Ecke, pendelnd zwischen Sozialneid und Mitleid mit sich selbst. 1989 ist er vor die Wand gelaufen – und seitdem für immer dort stehengeblieben.

Dankbar für das Ende flieht man, den Schauder noch immer im Nacken. Am Ausgang kleben Werbeplakate für Gregor Gysis Buch „Freche Sprüche“. Stimmt genau: Der Chef der Ost-Stigma-Partei hat hier gerade noch gefehlt. Aber nur ein paar Tage später hätte man ihn im selben Gebäude antreffen können: Vom 1. bis zum 3. März fand dort, gleich im Anschluß an die 1. Messe der ostdeutschen Musik, die „Internationale Ostereier-Börse 1996“ statt.

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