
Ist Timing doch nicht alles?
Kann der falsche Moment alles verderben? Jess Williamson denkt mit Raymond Carver darüber nach ...

Zu den schönsten, weil einfachsten Ausreden auf der Welt gehört das sogenannte Timing. Wenn ein Projekt nicht klappt, wenn sich ein Misserfolg abzeichnet, ja sogar wenn eine Liebe dann doch nicht die richtige war: Notfalls kann man es immer auf den falschen Zeitpunkt schieben. Das Timing war einfach ungünstig! Es hat halt gerade nicht gepasst, da kann man nichts machen. Alles hat seine Zeit, hat ja schon Oma gesagt. Und Gorbatschow stellte zwar fest: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, aber oft genug bestraft einen das Leben ja auch dafür, wenn man zu früh auftaucht oder in einem falschen Moment.
Aber gibt es das überhaupt: den falschen Moment? Vielleicht ist Zeit ja gar kein Zufall. Das glaubt jedenfalls die amerikanische Songschreiberin Jess Williamson, die ihr fünftes Album 2023 „Time Ain’t Accidental“ nannte. Der Titelsong fiel auf, weil aus dem üblichen Americana-Rahmen – mit deutlichen Zeilen, in denen sie ihren Liebsten vor kritischen Stimmen verteidigte: „Forget what they said to me, it doesn’t connect/ To the angel in bed with me, his face between my legs.“
Williamson ist keine Freundin der ausschweifenden Erzählung, sie mag es eher knapp – kein Wunder bei ihrer Lieblingslektüre: „I read you Raymond Carver by the pool bar like a lady/ Known you for a while, but you’d been someone else’s baby/ Look me in the eyes, I know it’s experimental/ Torn up over timing, but time ain’t accidental.“ Soll heißen: Ungünstige Umstände, anderweitige Verpflichtungen, schlechtes Timing – alles egal, wenn man nicht bloß Absichtserklärungen parat hat, sondern das Experiment des Zusammenseins wirklich wagen will. Dann gibt es keine Entschuldigungen.
„I know it’s experimental/ Torn up over timing/ But time ain’t accidental …“
Im Grunde gilt für die Liebe also dasselbe wie für das (Song-)Schreiben: Keine Zeit vergeuden – machen! Nicht zögern, wenn man etwas wirklich will, aber auch nicht verweilen, wenn man es nicht (mehr) will. „Get in, get out. Don’t linger. Go on.“ Das waren die entscheidenden Tipps, die Raymond Carver einst gab, in einem Artikel namens „A Storyteller’s Shoptalk“ in der „New York Times“, 1981. Man brauche schon auch Ehrgeiz und ein bisschen Glück, um es als Schriftsteller zu schaffen, fügte er noch an, doch der Kampf gegen die Zeitverschwendung schien ihm das Wichtigste zu sein.
Michelle Zauner hat mit ihrer Band Japanese Breakfast auch schon einmal auf Carver verwiesen, bei „Be Sweet“ (von „Jubilee“, 2021). Der Song beginnt mit den Worten „Tell the men I’m coming“. In Carvers Kurzgeschichte „Tell The Women We’re Going“ (1981) ging es um zwei Männer, den Alltag und einen plötzlichen Gewaltausbruch, der aus dem Nichts zu kommen scheint. Zauner dreht mit ihrer fordernden Protagonistin die Verhältnisse um.
Auch Japanese Breakfast lieben Raymond Carver
Die Liebe der Songschreiberinnen zu Raymond Carver ist nicht so erstaunlich: Sie haben nur drei, vier Minuten Zeit, um eine Geschichte zu erzählen – da schadet es nicht, sich an einigen der größten Short Storys des letzten Jahrhunderts zu orientieren. (Auch wenn Carver sich oft gar nicht so kurz gefasst hatte, sondern von seinem Lektor Gordon Lish entscheidend eingestutzt wurde. Die Ergebnisse sind Meisterwerke der Lakonie, so oder so.)
Raymond Carver starb 1988 mit 50 Jahren an Lungenkrebs. 1977 hatte er mit dem exzessiven Trinken aufgehört, einige Wochen vor seinem Tod noch seine langjährige Partnerin geheiratet. Auf seinem Grabstein steht eins seiner letzten Gedichte,
„Late Fragment“:
And did you get what
you wanted from this life, even so?
I did.
And what did you want?
To call myself beloved, to feel myself
beloved on the earth.
Carver gilt vielen als tragisches Genie, aber was will man mehr? Vielleicht gibt es gar nichts zu bedauern.