Istanbul calling

Meine Freundin in Istanbul möchte mit ihrem Sohn in den Gezi-Park, nichts Besonderes. Zwar ist der Park seit ein paar Tagen von Demonstranten besetzt, die nicht wollen, dass dort ein weiteres überflüssiges Einkaufszentrum gebaut wird, aber die Demo hat Volksfestcharakter. Wenige Stunden später erreichen mich Nachrichten aus Istanbul, die mein Herz bluten lassen. Die türkische Polizei hat mit einer Heftigkeit den Protest aufgelöst, die weder dem Anlass noch der Situation angemessen war. Durch die Proteste wurde mir schlagartig klar, wie sehr ich mir mein Herkunftsland schöngeredet hatte. Nur oberflächlich beschäftigte ich mich mit Hintergründen und Ereignissen, habe Signale und Zeichen falsch gedeutet.

So schlimm ist das alles nicht, dachte ich. Die Türkei ist nicht in einer so guten Verfassung wie Deutschland, aber immerhin, man kann sich äußern. Ignoriert habe ich die Tatsache, dass die demokratischen Spielregeln der Türkei nicht der Kuchen, sondern der dünne Zuckerguss ist, der nach außen gezeigt wird. In der Türkei sind mehr Journalisten in Haft als im Iran. Gerichtsprozesse wirken auf mich nicht rechtsstaatlich, sondern willkürlich, und die Meinungsbildung wird von außen gesteuert, nicht über Strukturen von innen heraus.

Alle politischen Parteien sind nach wie vor Sprechchöre bestimmter Klientelen, die, insofern sie sich nicht durchsetzen, alles daran setzen, den anderen jedwede Berechtigung abzusprechen. Und es geht den Parteien nicht darum, für andere etwas zu erreichen, sondern die anderen zu verhindern. Die Türkei ist keine Parallelgesellschaft, sie entwickelt sich in eine Diametralgesellschaft. Die Gezi-Proteste prallen an den betonierten Strukturen einer autokratischen Herrschaft ab, die bei der Hälfte der Bevölkerung sogar Unterstützung findet. Eine Gesellschaft, die sich voneinander abschottet und jede Form von Veränderung, Selbstbestimmung und Emanzipation ablehnt, da fremdbestimmtes Funktionieren mehr materielle Sicherheit suggeriert als selbstbestimmtes Scheitern.

Der Spagat der Türkei, mit einem überholten, autoritären Gesellschaftssystem Anschluss zu den industrialisierten Staaten des Westens zu finden, ist zum Scheitern verurteilt. Ein modernes, flexibles, anpassungsfähiges Wirtschaftssystem setzt weltoffene Veränderung voraus. Diese klaffende Lücke zwischen Anspruch und Realität wird selbst das autoritäre System nicht zwangsschließen können. Die Türkei sieht nur dann einer demokratischen Zukunft entgegen, wenn sie sich den Gesellschaften mit Gewaltenteilung, Bürgerrechten und echter Teilhabe anschließt. Ich bin sicher, dass dies irgendwann geschieht, wenn die Bevölkerung gelernt hat, wie eine Zivilgesellschaft funktioniert. Es wird ein schmerzhafter Prozess, aber unausweichlich, um sich nicht dem Rückschritt zu beugen.

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