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Jenseits des Zenits: RAF Camora im Porträt

RAF Camora ist einer der kommerziell und künstlerisch erfolgreichsten Akteure des Deutschrap. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere beschloss er, Schluss zu machen. Nun kehrt er mit einem neuen Studioalbum zurück. Warum? Was will er noch beweisen?

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Hochsommer in Berlin, auf der Kaiserin-­Augusta-Allee schiebt sich der Verkehr nur langsam voran. Es wird geflucht im städtetypischen Jargon. Am Straßenrand drückt sich ein übergewichtiger Mann in schwarzem Tanktop eine gekühlte Dose Bier gegen den verschwitzen Kopf. Die Hitze ist erdrückend. Doch nur ein paar Meter weiter bekommt man von dem Lärm und der Temperatur der Großstadt nicht mehr viel mit. Das Anthra Music Studio liegt in einem Hinterhof, der Zugang ist nicht ganz einfach zu finden, ein schwerer Industrieaufzug führt in die heiligen Hallen, in denen die Hits entstehen, die Deutschrap in den vergangenen Jahren geprägt haben.

Es ist Mittag, als Raphael Ragucci mit einem Fotografen das Studio betritt, die Haare zu einem Zopf gebunden, freundlicher Handshake, ein kurzes Sorry für die Verspätung, na ja, ein Shooting stehe heute noch an, und er brauchte noch ein passendes Shirt. ­Ragucci, 41 Jahre alt, öffnet sich einen zuckerfreien Energy-Drink, überspringt den Small Talk und kommt gleich zu den ganz großen Themen. Er spricht über Kurt Cobain, Metallica und von seinem neuen Album, das auf den ersten Blick nicht weiter von Kurt ­Cobain und Metallica entfernt sein könnte, aber eben nur auf den ersten Blick. Es gibt einige Künstler im Deutschrap-Kosmos, bei denen es sich lohnt, genauer hinzuschauen. ­Ragucci ist einer von ihnen. Der in der Schweiz geborene und in Wien aufgewachsene Halbitaliener hat unter seinem Künstlernamen RAF Camora das Genre im vergangenen Jahrzehnt nicht nur zur kommerziellen Blüte getragen, sondern ihm auch eine neue Identität verpasst.

RAF Camora auf dem Digital Exclusive Cover des ROLLING STONE / Foto: Markus Mansi

RAF Camora zählt zu den umtriebigsten Künstlern seiner Generation: 16 Studioalben, sieben Kollabos, sechs EPs und knapp 100 Singles, dazu eine Producer- und Managertätigkeit, regelmäßige Stadiontouren, außerdem ist er noch Autor und hat bei vielen relevanten Entwicklungen im Genre die Finger mit im Spiel. Doch davon spürt man im Gespräch nicht viel. Auch wenn Ragucci gerade einen vollen Kalender hat, von Termin zu Termin hastet und die letzten Vorkehrungen für sein neues Album trifft, wirkt er beinahe, nun ja, entspannt. Als würde er die Hektik einfach ausblenden können.

Es ist ein bisschen wie mit seinem Studio: ganz nah dran am Puls der Stadt und doch weit genug entfernt, um die Beobachtungen in aller Ruhe auf sich wirken zu lassen.

Vom Burnout zur Neuorientierung

„Ich habe das Gefühl“, sagt RAF, lehnt sich zurück und nimmt einen Schluck von seinem Energy-Drink, „dass die Akkus wieder aufgeladen sind. Mir hat die Auszeit sehr gutgetan.“ Die Auszeit. Eine ziemlich freundliche Umschreibung für die Zwangspause, die sich RAF vergangenes Jahr selbst verordnen musste. Und von der er nicht einmal wusste, ob er sie je überwinden würde. Heute spricht er von einer seiner dunkelsten Stunden in seinem Leben. „Ich war gerade mit Familie auf Ibiza“, erinnert er sich.

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„Es war eine wirklich wilde Zeit, ich hatte innerhalb von zwei Jahren fünf Releases, zwei Bücher geschrieben und zwei oder drei Tourneen gespielt. Ich stand komplett unter Strom.“ Als er abends zu Bett ging, hatte er plötzlich den merkwürdigen Traum, er müsste seine nächste Show spielen, aber er fand die Bühne nicht, irrte orientierungslos umher. Als die Intromusik einsetzte, schreckte Ragucci plötzlich auf und hatte ein lautes Fiepen im Ohr. „Ich bin in den Garten gelaufen und habe gehofft, dass das einfach aufhört, aber das tat es nicht“, erzählt er. „Ich hatte einen Tinnitus. Da kriegt man als Musiker wirklich Panik.“

RAF Camora

Zunächst versuchte er den Tinnitus einfach auszublenden, aber als weitere Hörstürze folgten, wusste er, dass es so nicht weitergehen kann. Sein Manager habe ihn vor die Wahl gestellt: Entweder würde er die Tour jetzt durchziehen, mit der Gefahr, dass er daran endgültig zerbricht – oder er würde sich eine Auszeit verordnen. „Ich hatte das Gefühl, dass meine Karriere wirklich zu Ende sein könnte, wenn ich jetzt nicht die Notbremse ziehe.“ RAF zog sich zurück. Komplette Funkstille. Er kaufte sich eine Wohnung in Dubai, am hintersten Ende der künstlich aufgeschütteten Palmeninsel, und beschäftigte sich nur noch mit Sport und Ernährung.

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Monatelang nahm er sich aus dem Geschäft. Bis sein Producer ihm einen Beat schickte, der auf einem Sample von Falcos Post-mortem-Hymne „Out Of The Dark“ basierte. „Out Of The Dark“, na klar! „Mir war sofort bewusst, dass ich mit genau diesem Beat zurückkommen müsste“, sagt er. Die Musik hatte ihn gepackt. Er war wieder ein Getriebener. Der Song wurde gut aufgenommen. „Und von diesem Zeitpunkt an“, sagt Ragucci, „habe ich mich nur noch auf die Arbeit an meinem neuen Album konzentriert.“

Kurze Pause. RAF führt durch sein Studio. An den Wänden hängen Goldene Schallplatten. Zumindest ein Teil von ihnen. Allein in Deutschland wurde RAF 57-mal Gold, 19-mal Platin und dreimal Diamant verliehen. Acht Nummer-eins-Alben, 45 Top-Ten-Singles, insgesamt über 15 Millionen verkaufte Einheiten. RAF hat so ziemlich alles erreicht, was ein Künstler in Deutschland unter kommerziellen Gesichtspunkten erreichen kann. Es ist aber mehr als nur kommerzieller Erfolg. Er hat einen Fußabdruck hinterlassen.

Soundrevolution und Rückzug vom Rückzug

2016 hat er den Grundton des Deutschrap grundlegend verändert. Eine ganze junge Generation von Künstlern basiert auf dem Sound, den er Mitte der Zehnerjahre erfunden hat. Während RAF durch das Studio führt, kommen und gehen Produzenten, man grüßt sich, tauscht sich ein wenig aus. Was treibt diesen Mann noch an, trotz aller erreichten Erfolge weiterzumachen?

Die Frage ist nicht so abwegig. Er hat sie sich schon selbst gestellt. Mehrfach verkündete er bereits sein Karriereende. Zuletzt 2019. Zu diesem Zeitpunkt hatte RAF den Höhepunkt seiner Karriere erreicht und seinen Rückzug aus der Musikindustrie bekannt gegeben, frei nach dem Motto, man solle doch gehen, wenn es am schönsten ist. Er kündigte eine letzte Show sowie das Release seines finalen Albums, „­Zenit“, in Wien an, mietete sich ein schwarzes Speedboot, fuhr damit durch den Donaukanal, um sich so seinen Fans zu präsentieren, bis um 21:30 Uhr das Erscheinungsdatum auf die Außenwände des berühmten Sofitel-Hotels projiziert wurde. Ein Happening, bei dem auch Shirts und CDs verteilt wurden. Die Fans folgten seinem Aufruf zu Tausenden und sorgten für ein Massenauflauf. Die Polizei sprach von einem Ausnahmezustand, musste spontane Straßensperren aufstellen, der Ansturm legte halb Wien lahm.

Auch dahinter steckt eine weitere Episode, die ihn mit Falco verbindet. Es ist überliefert, dass allgemeine Partystimmung ausbrach, als bekannt wurde, dass Falco mit „Amadeus“ den ersten deutschsprachigen Nummmer-eins-Hit in den Vereinigten Staaten gelandet hatte. Nur Falco selbst wurde ganz ruhig, ihm soll in diesem Moment vielmehr der Gedanke in den Kopf gekommen sein, dass es besser nicht mehr werden kann und es von diesem Moment an nur noch bergab ging. Auch RAF teilte diesen Gedanken. Und dennoch machte er weiter. ­Warum? Was treibt ihn an?

RAF hatte schon immer einen besonderen Blick auf die Indus­trie. „Als ich meine ersten Berührungspunkte mit der Musik hatte“, erzählt RAF, „habe ich mich ziemlich schnell auch für die dahinterliegenden Strukturen interessiert. Mann, ich war vielleicht elf Jahre alt, aber mich faszinierte nicht nur das, was auf der Bühne passierte, sondern auch das Drumherum.“ Warum standen die Künstler auf welcher Bühne? Wie kamen sie rüber? Wie sahen sie aus? Damals hörte er noch Rockmusik. Er wollte eine Metal-Band gründen und legte bei der Auswahl der Mitglieder schon ganz eigene Maßstäbe an. Er castete seine Band nach der Länge der Haare und der potenziellen Zuverlässigkeit der Charaktere.

RAF Camora

„Es gab so einen Dänen, keine Ahnung, wo der herkam, aber der hing bei uns immer im Park rum. Der Kerl war groß, hatte lange Haare und sah aus wie ein Star. Ich dachte: Den brauchen wir.“

Die Entscheidung war suboptimal. „Der Junge war komplett unmusikalisch und war zu nichts zu gebrauchen.“ Die Optik war für ihn dennoch schon immer ein ausschlaggebender Faktor. Musik ist auch ein Produkt, das sich vermarkten lassen muss. „Wären Nirvana jemals so erfolgreich geworden, wenn Kurt Cobain nicht Kurt Cobain gewesen wäre? Seine Optik, sein Style haben maßgeblich zu dem Erfolg der Band beigetragen“, ist Ragucci überzeugt. „Ich habe früh begriffen, dass das eine Rolle spielt.“

RAF Camoras musikalische Sozialisation

Dass er nicht der Rockmusik treu geblieben ist, lag letztendlich an einer Verwechslung. Ihm fiel „Temples Of Boom“ von Cypress Hill in die Hände. Er ging davon aus, dass es sich um eine Metal-Platte handeln müsste, denn Metal-Platten zeichneten sich zu dieser Zeit durch Totenköpfe und Pentagramme auf den Covern aus, und je mehr Totenköpfe und Pentagramme es gab, desto interessanter waren die Platten für ihn. „Temples Of Boom“ hatte ein ziemlich düsteres Artwork, und ­Ragucci merkte zu spät, dass es sich aber tatsächlich um ein HipHop-Album handelte. Aber da war er schon von der düsteren Grundstimmung und der intensiven Stimmfarbe von B-Real gefangen.

Durch Cypress Hill entdeckte er Crossover. Durch Crossover HipHop. „Als ich mir das Booklet von ‚Evil Empire‘ von Rage Against The Machine anschaute, dachte ich mir, scheiße, wie kann man nur so viel Message in einen Text bringen. Das wollte ich auch.“ Er begann zunächst, auf Französisch zu rappen, als Aggro Berlin dann aber französischen Straßenrap ins Deutsche übersetzte, dachte er, das könne er auch. Ihm gefiel der Style, aber den Sound wollte er besser hinbekommen. RAF zog nach Berlin, machte einige klassische Street-Rap-Alben, bis er begann, seine musikalische Sozialisation einfließen zu lassen und seinen Sound auch für andere Genres zu öffnen.

Er experimentierte mit Reggae und Dancehall, lernte Bonez MC von der 187 Strassenbande kennen und teilte mit ihm eine Vision. Sie wollten etwas Neues machen. Straßen-Dancehall. „Wir wollten der Straßen-Peter-Fox werden“, sagt er. „Und eigentlich wollten wir klauen“, gibt er offen zu. „Eiskalt. Aber wir hatten viel zu wenig Zeit, uns um die Beats zu kümmern.“ Und so entstand ungewollt etwas völlig Neues, die Beats waren vom Rhythmus her Dancehall, aber sie klangen nicht nach Dancehall. „Wir packten dann noch harte Street-Texte rein und kreierten etwas völlig Neues.“ Etwas, das Deutschrap veränderte. „Palmen aus ­Plastik“ gilt bis heute als eines der erfolgreichsten Alben der Deutschrap-Geschichte. Es hat Spuren hinterlassen.

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RAF öffnet seinen Laptop und sucht eine Datei heraus. Es ist das Cover seiner neuen Single „Bottega“, man sieht ein Model auf einem weiß bezogenen Bett liegen, sie trägt eine verspiegelte Sonnenbrille und hält eine türkisfarbene Bottega-Tasche in der Hand. Das Bild gibt es in verschiedenen Ausführungen, mit minimal unterschiedlichen farblichen Verläufen. RAF überlegt lange, welche Version er haben will, berät sich wieder und wieder mit seinem Umfeld. Im Post-CD-Zeitalter wird das Cover maximal die Spotify-Single in minimaler Auflösung zieren. Dort hat man nicht einmal die Möglichkeit, das Bild zu vergrößern. Aber die Details sind ihm dennoch wichtig.

Nun erscheint mit „Forever“ sein siebzehntes Studioalbum. Man könnte es einreihen in die lange Liste der Alben, die RAF geschrieben hat, aber so ganz stimmt das nicht. RAF verhandelt hier zumindest unterschwellig genau das Thema, das ihn als Künstler schon länger umtreibt, nämlich die Frage: Was liegt eigentlich jenseits des Zenits? „Als Jugendlicher war ich der größte Fan des ‚Black Album‘ von Metallica. Für mich ist das bis heute das vielleicht beste Album der Musikgeschichte. Einfach unfassbar. Als sie danach ‚Load‘ machten, sahen sie aus wie Cowboys. Das hat mich abgefuckt! Das waren nicht mehr meine Metallica. Ich konnte mich mit der Sache nicht mehr identifizieren.“

Legacy, Look & das neue Album

Hier schlägt er den Bogen zu seinem neuen Album. Er will ein RAF-Camora-Trademark-Album machen. Keine Experimente. Nur das, wofür RAF Camora steht. Einige Songs referenzieren auf andere Songs aus seiner Diskografie. Vielleicht ist es das, was ihn noch antreibt: Ragucci arbeitet an einem Monument für RAF Camora, das er der Welt hinterlassen will. Richtig stimmig. Alte Alben, mit denen er sich nicht mehr identifizieren kann, hat er bereits digital löschen lassen. Er will ein perfektes Gesamtprodukt hinterlassen. Bei dem nicht nur der Sound, sondern auch der Look perfekt sitzt.

Dann tritt Ragucci aus dem Studio und auf die laute Berliner Hauptstraße. Er hat heute noch einige Termine. Der Verkehr stockt, die Hitze drückt. Doch Raphael Ragucci scheint sich von dem, was ihn umgibt, gar nicht groß beeinflussen zu lassen. Zielstrebig macht er sich auf den Weg zu seinem Foto­shooting.

Hier geht es zum Behind-The-Cover-Video:

Mediahouse Berlin GmbH
Markus Mansi
Markus Mansi