John Lennon: Die Biographie

Zu Recht sorgt Philip Normans soeben erschienene John-Lennon-Biographie für Aufsehen. Nie zuvor wurden Kindheit, Jugend und Familie des 1980 verstorbenen Beatle mit so viel Tiefenschärfe ausgeleuchtet. SOUNDS druckt Passagen aus diesem Buch, die besonderen Aufschluss über die Einflüsse geben, denen John im England der fünfziger Jahre ausgesetzt war.

Selbst in den grimmigen frühen fünfziger Jahren überlebte eine ehrwürdige britische Tradition, die von Lewis Carroll und Edward Lear bis zu W. S. Gilbert und P. G. Woodhouse gepflegt wurde – der volle Einsatz der eigenen Intelligenz für die Produktion von blühendem Unsinn. Bis in seine Teenagerjahre hinein agierte John wie ein Goldsucher, der durch die schalen Landschaften von Logik und Alltagsverstand streunte, immer auf der Suche nach den glänzenden Nuggets des Absurden. Durch die Schulbibliothek kam er in Kontakt mit Stephen Leacock, einem kanadischen Schriftsteller, der „Nonsenseromane“ verfasste, mit Titeln wie „A Psychic Pstory of the Psupernatural und Sorrows of a Supersoul oder die Memoirs of Marie Mushenough“ (maschinell übersetzt aus dem Russischen). In den frühen Kinderfernsehsendungen trat gelegentlich ein „Professor“ Stanley Unwin auf, ein ernst dreinblickender Mann, der in anspielungsreicher, lautmalerischer Redeweise Märchen erzählte mit Titeln wie „Schneeflittchen und die sieben „Zen-Werke“. Die Englischstunden in Quarry Banks lieferten einen unerwarteten Nachschub im Mittelhochenglisch von Geoffrey Chaucers Canterbury Tales (When the Aprille with shoures soote …), die oft wie Stanley Unwin aus dem vierzehnten Jahrhundert klangen.

Aber das war alles nichts gegen die Goon Show, deren erste Folgen 1951 von der BBC im Radio ausgestrahlt wurden und die dann 1953, im Jahr der Krönung von Königin Elizabeth II., richtig einschlugen. Die Texte der Sendung wurden im Wesentlichen von Spike Milligan verfasst, der gelegentlich auch als Jazzmusiker reüssierte. Oberflächlich gesehen, nahmen sie zum einen auf den Zweiten Weltkrieg Bezug („„Goons“ war der Spitzname, den die alliierten Kriegsgefangenen für ihre deutschen Bewacher benutzten), zum anderen auf die von Conan Doyle inspirierte Welt der Kriminalromane mit Spionen, Intrigen und tollkühnen Abenteuern. Inhaltlich jedoch waren die Beiträge von himmelschreiender Anarchie, voller verrückter Stimmen und aberwitziger Situationen. So etwas war dem britischen Publikum bisher noch nie geboten worden und schon gar nicht von Sendern wie der hochseriösen BBC.

Zusammen mit einem damals kaum bekannten Variete-Komiker namens Peter Sellers schuf Milligan eine Ansammlung von Charakteren, die mit der menschlichen Rasse nur entfernt Bekanntschaft gemacht zu haben schienen – den altersschwachen Colonel Bloodnock, das trillernde Duo Henry Crun und Minnie Bannister, den durchgedrehten Eccles, den supersanften Grytpype-Thynne, den weinerlichen Hermaphroditen Bluebottle. In all dem Wahnsinn waren wie Köder am Haken Anspielungen eingebaut, die auf bis dato unangreifbare nationale Institutionen zielten. Auf den Arm genommen wurden die Armee, die Kirche, das Außenministerium, ja selbst die BBC (was das Unternehmen erstaunlicherweise nie bemerkte).

Die größten Anhänger der Goons waren Schüler aus der Mittelschicht am Anfang der Pubertät, jene allzu ernsten Kriegskinder, die bisher gedacht hatten, dass die erdrückende Ordnung des Lebens ewig vorhalten würde. Für John zählte diese Sendung in der Zeit von 1953 bis 1955 zu den größten Momenten in seinem Leben. Nichts konnte ihn vom Radio wegbringen, wenn wieder einmal die schneidende Stimme des Ansagers Wallace Greenslade eine weitere Episode aus Milligans Werkstatt ankündigte mit Titeln wie Her (eine Parodie auf H. Dieder Haggards She) oder The Sinking of Westminster Pier, mit einem Auftritt von Minnie und Henry, denen die Aufgabe zukam, das Geschlecht von Austern zu bestimmen, das Ganze eingerahmt von wilden musikalischen Zwischenspielen des Harmonikaspielers Max Geldray. John konnte die Stimmen und typischen Phrasen aller Figuren nachmachen, angefangen bei Minnies senilem Gegurgel bis hin zu Bluebottles hysterischen Ausrufen: „„Ich mag das nicht!“, „„Du dreckiges, verkommenes Schwein!“ und „Du hast mich totgemacht!“.

Röhrenhosen und Klobürsten

In der Zeit vor Johns fünfzehntem Geburtstag hielt man in England das Erwachsenwerden für die normalste Sache der Welt, etwas, das nach Schema F vonstatten ging. Die Kinder waren Kinder, bis sie die Pubertät beinahe hinter sich hatten, dann, quasi über Nacht, galten sie als erwachsen, trugen die gleiche Kleidung wie ihre Eltern, orientierten sich an deren Werten und fanden Freude an den gleichen Zerstreuungen. Die Wirkungen, die das hormoneile Aufbrausen auf unreife und leicht zu beeindruckende Geister haben kann, waren von der Wissenschaft noch nicht gründlich untersucht worden, die Soziologie hatte dazu noch nichts zu sagen. Die umfassende Wehrpflicht aus der Zeit des Krieges war noch in Kraft und erwischte alle tauglichen Männer im Alter von 18 Jahren, um sie durch ein zweijähriges Training mit militärischer Disziplin zu schleusen, das, zumindest in den meisten Fällen, dauerhafte Wirkung zeigte. Einzig den Studenten an der Universität, die damals nur etwa zwei Prozent der jungen Leute ausmachten, gestand man eine Periode von Eigenwilligkeit, Schwelgerei und Aufmüpfigkeit zu, bis sie die Verantwortung des Erwachsenendaseins übernahmen.

Aus amerikanischen Filmen erfuhren John und seine Freunde voller Neid, dass man die Altersspanne zwischen 13 und 20 als eine eigenständige Form des Lebens begreifen konnte, in der man überschwenglich und verschwenderisch lebte. All das wirkte wie ein glückliches Intermezzo, der College-Campus stand allen offen, und die dortigen High Schools waren so anders als alles, was man aus Quarry Bank kannte. Die Jungs in ihren Baseballkappen mit den aufgedruckten großen Buchstaben und die Mädchen mit Pferdeschwanz; Hamburger und Coca Cola, Cheerleader und Tanzpartys. Lange bevor es für ihn selbst wichtig wurde, hatte John die zentrale kulturelle Differenz erfasst: „„In Amerika gab es Teenager… überall sonst nur Menschen.“ (…)

Wie Tausende anderer Jungen, die sich bisher nicht die Bohne um ihre Kleidung oder ihre Frisur geschert hatten, begann John jetzt, sein Haar sorgfältig zu kämmen, achtete auf sein Äußeres und orientierte sich in allem an Elvis. Wie alle Schüler der Quarry Bank versuchte auch er, seine Schuluniform zu elvisizieren, machte an seinem Sakko nur den untersten der drei Knöpfe zu, um diesen bestimmten Faltenwurf zu imitieren, und ließ den Knoten der Schulkrawatte so weit wie möglich nach unten hängen, so dass sie aussah wie ein durchgebogener Drahtbügel. Das größte Problem waren die Hosen, die für Jungen und Mädchen immer noch eher sackförmig geschnitten waren, ein Stil, der seit den zwanziger Jahren unverändert war. In kaum einem Geschäft für Herrenkleidung hatte man bereits die neuen Hosen im Röhrendesign auf Lager, also blieb einem nichts anderes übrig, als mit den alten Hosen in die Änderungsschneiderei zu gehen und den Umfang der Hosenbeine von 60 auf 40 Zentimeter oder (ganz frivol) sogar auf 35 reduzieren zu lassen.

Der Streit um die Hosenbeine bildete das größte Schlachtfeld in britischen Familien der fünfziger Jahre. Da half es nichts, dass das britische Empire von Männern in engen Hosen aufgebaut worden war, dass man in jedem Palast, Herrenhaus oder Museum im Land die Porträts von engbehosten Königen, Herzogen und Premierministern bewundern konnte. Die neue Mode wurde mit den Rabauken der Unterschicht, den Teddy Boys, identifiziert, die etwas besser Informierten sahen darin den modischen Stil der Schwulen. In Mendips (kurz für das Haus Menlove Avenue 251 in Woolton, wo John mit seiner Tante Mimi wohnte, Anm. d. Red.) war Mimi wie zu erwarten entsetzt, als ihr Neffe versuchte, sein Erscheinungsbild in das eines gewöhnlichen Teddy Boys umzugestalten. Zwar war sie machtlos gegenüber der Art, wie John seine Schuluniform trug und wie er sich von Mr. Bioletti in der Penny Lane das schöne gewellte Haar neu gestalten ließ, so dass er aussah „wie eine schlecht frisierte Klobürste“, so ihre Worte. Aber bei den Hosen war Schluss: Es war John absolut verboten, „„Röhren“ anzuziehen oder an irgendeinem seiner Beinkleider herumzuexperimentieren.

Schmuddelmusik

Die BBC, der einzige Radiosender im Land, brachte selbst über die berühmtesten Interpreten keine Meldungen, und selbst den Begriff Rock’n’Roll sprach man mit gespreizten Lippen aus. Von den Schallplatten abgesehen konnte man diese Musik nur aus den Musikboxen hören, die in den neu aufgekommenen Espressobars standen, was wiederum erklärt, warum diese Läden immer bis auf den letzten Platz mit Teenagern besetzt waren und warum die Erwachsenen diese Orte mit den illegalen Spelunken aus dem Amerika der Prohibition verglichen. Auf Jahrmärkten dröhnte der Rock’n’Roll aus den Lautsprechern der Fahrgeschäfte, was wiederum sein Image als Schmuddelmusik verstärkte, die nur unehrliche und gewalttätige Menschen ansprach.

Für eine ständige Versorgung mit Rock’n’Roll sorgte Radio Luxemburg, eine Station, die von irgendwo auf dem sagenumwitterten europäischen Festland aus sendete und täglich auf Englisch die Britischen Inseln beschallte, immer mit den neuesten Hits und Discjockeys wie in Amerika, es gab Werbeeinschaltungen und Erkennungsmelodien für die Sendungen. Aber die Sendungen von Radio Luxemburg fingen erst abends um acht Uhr an, und der Empfang in England war nicht immer der beste. John hing, wie alle Teenager damals, nachts vor dem Kofferradio, leise gestellt unter der Bettdecke, damit Mimi ihn nicht erwischte. (…)

Der britische Skiffle war eine Musik für Jungen; für John und seinesgleichen ein Geschenk des Himmels. Für das erste Aufbäumen des Rock’n’Roll waren sie zu jung, und von der ziemlich harten Kultur der Teddy Boys, die diese Musik jetzt für sich reklamierten, fühlten sie sich ausgeschlossen. Skiffle war gleichsam eine abgemilderte Variante des Rock’n’Roll, eine sozialverträgliche Form, zwar auch amerikanisch verseucht, aber ohne jeden Schimmer von Sex und Gewalt. In der in England adaptierten Variante nutzte dieser Stil alle Musikrichtungen, die ihm in die Quere kamen, von Country und Folk bis Jazz – auch wenn die jungen britischen Musiker das eine nicht vom anderen unterscheiden konnten, geschweige denn, dass sie eine Ahnung von den sozialen Wurzeln dieser Musik hatten oder davon, dass sie ursprünglich von Schmerz, Wut und dem Gefühl von Ungerechtigkeit inspiriert war. Alles, was zählte, war der rasende, prasselnde Beat und die magischen Verweise auf Eisenbahnen, Gefängnisse und Chain-Gangs.

Elvis hatte die Gitarre für die männliche britische Jugend zum unerreichbaren Symbol von Glamour und sexueller Anziehung gemacht. Lonnie Donegan machte daraus etwas, das man erlangen konnte. Der Skiffle orientierte sich am klassischen Bluesschema von zwölf Takten und vier Akkorden, und in der allereinfachsten Version brauchte man dazu nur einen oder zwei Finger; das konnte jeder spielen und schnell lernen.

Skiffle war die Pop-Sensation im England der Jahre 1956 und 1957 und verwies sogar Presley und den Rock’n’Roll auf die Plätze. Lonnie Donegan und seine Skiffle Group landeten eine Serie von Top-Ten-Hits, die bis ins nächste Jahrzehnt ungeschlagen bleiben sollte. Es handelte sich dabei um echte oder vermeintliche Folksongs mit Titeln wie Lost John, Bring A Little Water Sylvie, Don’t You Rock Me Daddy-0 und Cumberland Gap. Die Plattenfirmen suchten händeringend nach neuen Skiffle-Stars und konzentrierten ihre Suche dabei auf das Vergnügungsviertel Soho in London, besonders auf die 2 l’s Coffee Bar in der Old Compton Street, wo Tommy Steele einige seiner ersten Auftritte hatte. Ein noch junger Plattenproduzent, George Martin vom Label Parlophone, machte seinen ersten Schritt auf der Karriereleiter, indem er sich in das 2 l’s verlief und dort ein Skiffie-Quintett namens Vipers unter Vertrag nahm.

Vor allem aber elektrisierte der Skiffle die normalen Jugendlichen weit weg von London, Jugendliche, die sich selbst nie als musikalisch bezeichnet und die eher Harakiri begangen hätten, als sich in der Öffentlichkeit hinzustellen und zu singen. Im ganzen Land entstanden jugendliche Skiffle Groups, deren Namen voller Hoffnung die Weite Amerikas beschworen – die Rambiers, die Nomads, die Hoboes, die Streamliners, die Cottonpickers. Aus den Küchen wurden die Waschbretter und Besen geholt. Gitarren, über Jahre hinweg in den Musikläden verstaubt, waren plötzlich ausverkauft. Als die Zeitungen von dieser nationalen Versorgungskrise berichteten, fühlte man sich beinahe an die erst vor kurzem zu Ende gegangenen Zeit der Entbehrungen erinnert. Manche der jugendlichen Möchtegern-Skiffler fingen nicht ganz als absolute Laien an, dank ihrer Väter, älteren Brüder oder Onkel, die professionelle oder zumindest semiprofessionelle Musiker waren. Aber die wenigsten verdankten ihren Vorsprung der eigenen Mutter, wie John. Denn Julia spielte Banjo, und auch dieses Instrument stand – in noch größerem Maße unerwartet als die Gitarre – plötzlich im Rampenlicht. Lange bevor Skiffle aufkam, hatte sie John beigebracht, wie man das Banjo zupft. Er konnte einstimmige Lieder spielen wie Little White Lies oder Girl Of My Dreams. Das Motiv war simpel: Wer ein Instrument beherrscht, ist immer beliebt. Aber das Banjo war jetzt vergessen. „Ich las die Werbeangebote für Gitarren“, erinnerte er sich später, „„und wollte unbedingt eine haben. Wie jeder andere bemühte ich Gott für diesen einen Wunsch: ‚Bitte, Herr, gib mir eine Gitarre!'“

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