KAJAL IM POP

Die dramatische betonung der augen durch das Auftragen von verbranntem Butterschmalz hat eine jahrtausendealte Tradition, sie geht zurück zu den Indern, zu den Ägyptern, wenn nicht gar bis in die Steinzeit. Früher oft von kultisch-religiöser Bedeutung sowie zur Abschreckung von Fliegen eingesetzt, hat die Verwendung von Kajal heute weit wichtigere Gründe -als Distinktionsmerkmal vor allem. Jedenfalls im Pop, dort scheidet er die Geister. Der Griff zum Stift macht selbstdarstellerisch einen Riesenunterschied.

Wir reden natürlich von Männern. Frauen mit Eyeliner sind eher selbstverständlich. Geschminkte Männer dagegen zunächst vor allem: theatralisch. Dort kommt die moderne Tradition auch her, sie setzt sich fort über die Stummfilm-Ära, als man dick auftragen musste, um erkennbaren Ausdruck zu erzielen. Vielleicht waren die Comedian Harmonists eine der ersten „Bands“, die sich damit stylten. Im Rock’n’Roll war der wilde Little Richard ein Make-up-Pionier, der seine Augen mit Kajal dramatisch weitete. In seinem Fall weniger zur Zurschaustellung einer existenziellen Melancholie und mysteriösen Tiefe, wie man das heute kennt – eher zur Betonung seiner exotischen Animalität und sexuellen Vieldeutigkeit. In dieser Traditionslinie kajalten sich auch die Rolling Stones, insbesondere Keith Richards begründete damit eine eigene Traditionslinie über Johnny Thunders und Adam Ant (der es mit dem Stift übertrieb) bis hin zu Jack Sparrow.

Proto-Glam-Rocker wie Lou Reed, David Bowie, Iggy Pop, Marc Bolan, allen voran aber Freddie Mercury, hatten wenig Berührungsangst mit allem, was die theatralische Wirkung erhöhte. Tristesse war noch nicht (so) das Thema, es war eben Glam. In den 70erund 80er-Jahren war expressives Make-up, regelrechte Malerei eine sehr akzeptierte Facette künstlerischer Darstellung (heute gibt es das nicht mehr, außer bei Deichkind). Von Kiss und Ozzy Osbourne mal abgesehen, stachen -insbesondere im Zuge der Post-Punk-Entwicklungen -nun auch viele Frauen farblich extrem hervor, etwa Kate Bush oder Siouxsie Sioux inklusive Banshees bis hin zu Lady Gaga. In den frühen Achtzigern war zumindest eine englische Pop-Karriere ohne Kajal praktisch undenkbar: Marc Almond. Boy George. Pete Burns (von Dead Or Alive, kennt man nicht mehr so). Marilyn (hat nie jemand wirklich gekannt, ist aber eigentlich der, der nach eigener Darstellung Boy George nach vorne gebracht hat), die Liste ließe sich ewig fortsetzen.

Wichtigster Schminker unter Gesichtspunkten der nachhaltigen Wirkung der Kajal-Bedeutung bis heute ist aber sicherlich Robert Smith von The Cure, der unzähligen Generationen von Dark Wavern, Gruftis, Gothic People, Emos und so weiter wie ein Schutzheiliger des Kohlestifts gelten muss -neben Dave Gahan, Blixa Bargeld, Tokio Hotel und 30 Seconds To Mars. Oder eben Placebos Brian Molko. Kajal-Augen mögen eine anziehende Unergründlichkeit ausstrahlen, mit Sicherheit aber niemals Humor oder Leichtigkeit. Kajal-Typen sind anders, sie sind vor allem existenziell ernst und traurig, aber auch hart und mutig -sie wagen es zum Beispiel, sich öffentlich zu schminken und dadurch ihre bedeutsame Andersartigkeit zu demonstrieren. Damit erheben sie sich über die Niederungen der Normalität, ja der Normativität, ohne dabei zum Clown zu werden – es sei denn zum traurigen Pierrot.

Es ist wirklich erfreulich, dass die Zivilisationsgeschichte und die Kosmetikindustrie für dieses Bedürfnis eine ebenso simple, gesunde wie preisgünstige Möglichkeit entwickelt hat.

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