Klausur auf dem Atlantik

Wie die Karriere von Udo Lindenberg, zuletzt einige Jahre auf dem Trockendock, an Bord eines Dampfers wieder auf Kurs gebracht wurde.

Gerhard? Udo Gerhard Lindenberg? Der Beamte in seinem Glaskasten guckt etwas verdutzt zwischen amtlichem Dokument und Gesicht des Sängers hin und her, dann gibt er Lindenbergs Pass zurück und wünscht gute Reise. „Werden wir haben“, murmelt Lindenberg, „kleiner Abenteuer-Törn.“

Wie üblich reiste er mit einer Gruppe, die und deren Gepäck sich weltweit jeder Kontrolleur gern etwas genauer ansieht. Diesmal dabei, auf dem Luftweg nach New York, von wo aus es mit dem Schiff zurück nach Hamburg ging: die Musiker des Panik-Orchesters, der Leibwächter natürlich, die drei Produzenten der aktuellen Platte, der Panikdoktor genannte Leibarzt, die Männer für Bühne, Licht und Ton der bevorstehenden Tournee. Und der literarische Beirat, also ich. Auf dieser Reise sollte das Programm für die sechs Wochen später startende Deutschland-Tournee geplant werden. Welche der neuen, welche der vielen ioo älteren Lieder werden in welcher Reihenfolge gespielt? Wie sollen sie klingen? Wie kriegt man den innovativen Sound der neuen Platte live hin, wie kann man totgespielte Lieder wiederbeleben, wie soll die Bühne aussehen, wie kleiden sich Band und Sänger? Kurzum: Dass es Streit geben würde, war auch klar.

Unabhängig voneinander hatten Produzent und literarischer Beirat bei den ersten Entstehungsschritten der Platte „Stark wie zwei“ zu einer Annäherung an die Beantwortung der Frage, wie Udo Gerhard Lindenberg 2008 klingen könnte (sollte, müsste!), dessen Frühwerk aus dem Keller geholt: Wäre es nicht extrem frisch und aufregend, man machte es einfach so wie früher? In dem Stil, in dem Ton – mit dem Wissen und der Erfahrung von heute? Sowas kann nur Nachgeborenen einfallen. Der Produzent spielte den Musikern im Studio immer wieder Lindenbergs Frühwerk vor, und der literarische Beirat bestand darauf, in eine Textskizze, aus der später „Wenn du durchhängst“ wurde, frech und angstfrei zweieinhalb Zeilen des so uralten wie unsterblichen Liedes „Daumen im Wind“ einzubauen. Als exemplarische Brücke zwischen ganz früher und ganz heute.

Folgerichtig kaufte der Produzent in New York dann einen iPod, lud darauf das Lindenberesche Gesamtwerk und überreichte ihm den im Namen der Reisegruppe am letzten Abend auf dem Schiff. Der literarische Beirat ordnete während der Reise eine Auswahl der besten Texte aus 36 Jahren für einen (keine Angst vor diesem Wort!) Gedichtband, der pünktlich zum Tourneestart fertig gedruckt vorliegen sollte. An den beiden Texten „Gerhard Gnadenlos“ und „Gerhard Gösebrecht“ hatte er nach der Reisepass-Episode natürlich noch mehr Freude, und er sah einmal mehr seine Behauptung bestätigt, dass Lindenbergs Werk lebenslang Entdeckungsfreuden bereithält. Beide Maßnahmen, Musik- und Text-Werkschau, hatten das Ziel, Udo Gerhard Lindenberg einfach mal kompakt in Ton und Wort vorzulegen, was er schon für, wie er selbst dann feststellte, „dolle Dinger hingelegt“ hat. Und dieses eindrucksvolle Gesamtwerk sollte er bitte nicht als Last, sondern als Kapital begreifen.

In New York hatte sich die Reisegruppe noch konfliktvermeidend in Minigrüppchen aufgeteilt, die Wege und Ziele überschnitten sich kaum, der Dollar war schwach, die Einkaufstüten waren groß. Auf dem Schiff dann waren die Möglichkeiten, einander aus dem Weg zu gehen, naturgemäß begrenzt. Nun ging es an die Arbeit, jetzt wurde es problematisch. Eine das Comeback rundende, eine epochale Tournee sollte es werden, darin – und nur darin – war man sich einig. Wie nämlich dieses Ziel zu erreichen wäre, dazu hatte wirklich jeder seine ganz eigenen Vorschläge. Es bildeten sich Koalitionen und Konfliktlinien. Jeden Nachmittag wurde in einem fensterlosen Raum unter Deck konferiert, Udo zog sich die Schuhe aus und murmelte mal dies, mal das; hin und wieder ging jemand beleidigt hinaus, es war grauenhaft. Es kursierten sehr verschiedenartige Listen mit Lieblingsliedern und Verbotsanträgen – das hatte man nun davon, auf ein so komplexes Werk zurückgreifen zu können. Jeder der Beteiligten hatte einleuchtende Gründe, sich für besonders kompetent zu halten, die einen, weil sie schon so lange dabei sind, die anderen machten stimmig das Gegenteil zu ihrer Argumentationsbasis. So waren es auch Kämpfe zwischen Alt und Jung, zwischen Stadionrock und Reduktion, zwischen Kostümball und Purismus. Die Biografien der Anwesenden und die daraus resultierenden Ansichten hätten konträrer nicht sein können; einziger Grund, überhaupt miteinander zu reden, einziger Berührpunkt: Udo.

Der Panikdoktor verfolgte die Streitereien mit amüsiert-distanziertem Lächeln und hielt die verschiedenen Zerwürfnisszenarien in hingehuschten Aquarellen fest. Wenn spätabends die Musiker im Bordcasino und die Produzenten in der Borddisco Zerstreuung suchten (beides Orte jämmerlicher Niederlagen), schlich Lindenberg an Deck herum und summte vor sich hin. Hier, wo jeder zu Gast ist, hier schien er zu Hause zu sein. Schiffe kommen in seinen Liedern seit jeher vor, als Vehikel der Sehnsucht, als Symbol für Freiheit. Vollkommen logisch also, dass er eine Schiffreise wählte, um seine Mitarbeiter „auf Kurs“ zu bringen – auf welchen, das würde sich schon zeigen. Eine Weisheit, die er in verschiedenen Liedern immer wieder anders formuliert hat, lautet: Wenn man schon genau weiß, wohin man will, kann man auch gleich zu Hause bleiben.

Lindenberg, das wurde einem spätestens auf dieser Reise klar, ist ein gewiefter Pädagoge. Als man dann nachmittags wieder in diesem fensterlosen Raum unter Deck saß und sich einmal mehr versöhnte und dann doch wieder zerstritt (und anschließend versöhnte), da merkten kurz vor Hamburg alle Beteiligten: Platter geht es ja gar nicht, aber es ist wohl tatsächlich so, wir sitzen alle in einem Boot. Man fand Kompromisse, einigte sich knurrend. Dass Lindenberg einmal getroffene Entscheidungen bis zum Schluss, bis tatsächlich zum letzten Konzert, mit Hingabe revidieren würde, darauf war man nun gefasst. Eine seiner dominierenden Charaktereigenschaften ist nun mal permanente Offenheit nach allen Seiten, gut gegen Langeweile, schlecht für Stabilität. Aber es gab jetzt eine vorläufig verbindliche Lieder-Reihenfolge, ein von allen getragenes Gemisch aus neu und alt, jede Fraktion hatte ein paar Wünsche durchsetzen können und ein paar Abstimmungsniederlagen hinnehmen müssen. „Nie wieder“, grinste man versöhnungswillig, gab einander die Hand und ließ sie bis zum letzten Konzert nicht mehr los.

Am Hamburger Hafen wurde Lindenberg von einem Fahrer seines im Pass offiziell eingetragenen Wohnsitzes „Hotel Atlantic“ abgeholt. Der Fahrer berichtete, dass in Lindenbergs Abwesenheit dem Hotel vorübergehend ein Stern aberkannt worden war. Lindenberg lachte darüber und tippte sich an den Hut, auf dem ein kleiner Metallstern angebracht ist: „Den hatte ich ja auch mitgenommen. Nach der Tour mach ich den wieder dran. Und auf der Tour trage ich ja meinen Raumfahreranzug, da habe ich sowieso immer ein paar Sterne in der Tasche.“

Der Astronaut musste los – die Tournee ist vorüber, sie war ein großer Erfolg.

Die Mode kam, die Mode ging – und er war immer noch der King.

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