König der Copacabana

EIN NOTFALL! MARCOS Valle muss seinen Hund in die Tierklinik bringen, das Interview mit dem legendären brasilianischen Songwriter und Produzenten muss verschoben werden. Beim zweiten Versuch liegt Valle im Bett. Erst im dritten Anlauf bekommt man den 70-jährigen Sonnyboy, der am Strand der Copacabana aufwuchs, eines der berühmtesten brasilianischen Pop-Stücke aller Zeiten komponierte und der Welt einige der versponnensten Platten der frühen Siebziger schenkte, ans Telefon. Er kommt – woher auch sonst – vom Komponieren. „Ich habe mit meiner Gitarre neben meinem Hund unter der Klimaanlage gesessen und versucht, ein altes Gedicht des großen brasilianischen Dichters Marcus Vinicius da Cruz e Mello Moraes zu vertonen, das mir vorige Woche auf einer Party gegeben wurde“, berichtet Valle. „Ich konnte nur Gitarre spielen. Das Klavier wäre zu weit weg gewesen, ich musste den Hund im Auge haben.“

Valle ist so etwas wie eine unbekannte Legende: Er komponierte Welthits, die von Sinatra und bei den Simpsons gesungen wurden, Jay Z und Kanye West sampelten ihn. Die wohl bekannteste Geschichte aber, die über ihn kursiert, erzählt Valle, der in den frühen Sechzigern von den Bossa-Nova-Meistern Antonio Carlos Jobim und Joao Gilberto entdeckt wurde, gleich zu Beginn. In der zweiten Hälfte der Sechziger hatte ihn der Erfolg seines Welthits „Summer Samba“ in die USA getragen. „Die Amerikaner waren verrückt nach Bossa Nova“, sagt Valle mit breitem Akzent. Auf einer Party in Hollywood, die der damals 21-Jährige mit seiner drei Jahre jüngeren Ehefrau Anamaria besuchte, war auch Marlon Brando anwesend, der den größten Teil des Abends damit verbrachte, die aufspielenden Bands mit enthemmtem Bongo-Getrommel zu begleiten. Als Valle und Anamaria die Party verlassen wollten, packte Brando die junge Frau rüde am Arm und bellte ihr ein unmissverständliches „You are beautiful, stay with me“ entgegen. Valle war so aufgebracht, dass er dem Mimen trotz klarer Unterlegenheit einen Schwinger verpassen wollte, was von den umstehenden Partygästen aber verhindert werden konnte. Valle: „Lustigerweise erinnere ich die Sache so, dass Brando während der ganzen Aktion nicht aufhörte, auf seinen Bongos herumzutrommeln.“

Es lag wohl kaum nur an diesem Zwischenfall, dass es den schüchternen Valle bald zurück in seine Heimat zog, obwohl dort seit 1964 das Militär regierte und Künstlern haarsträubende Auflagen machte. „Trotzdem: Mir war das Musikgeschäft in den USA einfach zu rigide, mir fehlte der leichte brasilianische Lebensstil.“ Zurück in Rio de Janeiro explodierte Valle schier vor Kreativität. Vor allem die vier Alben, die er zwischen 1970 und 1973 veröffentlichte, sind eklektische Wundertüten, die, nachdem sie jahrelang als begehrte Sammlerobjekte Höchstsummen auf Börsen erzielten, vom Label Light In The Attic nun endlich wieder zugänglich gemacht wurden. Es sind überbordende Zauberplatten, die man – sofern keine anderen brasilianischen Platten zur Hand sind – gut zwischen Serge Gainsbourg, Morricone oder Lucio Battisti klemmen kann: süffige, freie, harmonisch oft dem Jazz nahe, aber stets im Pop geerdete Musik. Es setzt triefende Streicher, Kaskaden-Klaviere, Proto-Rap, Psych-Bossa-Nova, Croonerei, späte Beatles, frühes Sampling, entfesselte Querflöten, Comic-Sounds, Getrommel und Gerappel, vielstimmige Chöre, farbenfrohe Bläser: Manchmal tönt es, als erwischte man einen bekifften Burt Bacharach beim Vertonen experimenteller Frühsiebziger-Sexfilme. „Mir war damals bewusst, dass diese Platten viele Leute sehr beeindrucken, mindestens genauso viele Leute aber auch befremden würden. Das waren keine kalkulierten Platten, ganz im Gegenteil. Diese Musik musste aus mir raus, ich konnte gar nicht anders. Aber ich habe bis heute das Gefühl, dass sich meine Musik immer weiter entwickelt. Sie kommt aus meinem Unbewussten. Andere haben einen guten Psychiater, ich habe die Musik.“

Als Tropicalismo-Musiker sieht sich Valle trotz großer Bewunderung für dessen populärste Vertreter Caetano Veloso, Os Mutantes oder Gilberto Gil nicht: „Ich war schon sehr früh in meiner Karriere von anderer Musik als nur von Bossa Nova beeinflusst. Mich hat immer schon Jazz, Pop, Rock’n’Roll und so weiter interessiert. Es wurde bei mir einfach nur immer psychedelischer.“ Sein Lebensstil zu jener Zeit sei mehr oder weniger der eines Hippies gewesen, erzählt Valle. „Im Grunde ist das bis heute so: Lange Haare habe ich ja immer noch, und ich bevorzuge weiterhin einen eher simplen Lebensstil. Ich bin mehr der Naturbursche. 1972, zur Entstehungszeit von ,Vento Sul‘, lebten wir tatsächlich mit vier Paaren zusammen am Strand eines Fischerdorfs in einer Art Community.“

Immer mit von der Partie: Valles Bruder und Songtexter Paulo Sergio, dem es gelang, der eigentümlichen Stimmung von Marcos‘ Musik die angemessenen Worte angedeihen zu lassen. Immer wieder aber hatten die Brüder mit den Verboten der Zensur-Behörde zu kämpfen: „Es war absurd. Wir mussten ständig dort antanzen und unsere Musik vorlegen. Die Leute bei der Behörde waren totale Banausen, das hat mich am meisten gestört. Absolut kein Sinn für Kunst!“

Mitte der Siebziger, zermürbt von den immer strengeren Auflagen der Militärs, verließ er Brasilien abermals gen USA, um dort unter anderem mit der Sängerin Sarah Vaughan zu arbeiten. Die große internationale Wiederentdeckung des Valle’schen Werks begann erst in den Neunzigern, als – die Originalalben waren längst vergriffen – diverse Compilations auftauchten. Von noch größerer Bedeutung für das Valle-Revival aber war wohl der Umstand, dass Jay Z für seinen 2009er-Song „Thank You“ ein Sample von Valles „Ele e Ela“ verwendete. Das Original ist ein prächtiger sonnendurchströmter Lounge-Walzer, den er auf dem „Marcos Valle“-Album mit seiner Schwester sang. „Einer meiner Söhne kam mit Jay Zs Platte an. Mich hat das sehr gefreut. Nicht alle interessieren sich dafür, woher ein Sample genau stammt, aber eine Menge Leute forschen nach. Das sind die echten Musik-Freaks, diese Leute hätten mich sonst womöglich nie entdeckt.“

2013 war ein wichtiges Jahr für Marcos Valle: Im September feierte er seinen 70. Geburtstag. Sein 50-jähriges Bühnenjubiläum wiederum konnte er mit einem Nummereins-Album in Brasilien begehen, und wer ihn auf seiner Tour im Sommer erleben durfte, konnte beruhigt feststellen, dass der Mann kreativ nach wie vor gut im Saft steht. Auch dem Hund geht es wieder besser: „Er ist schon ziemlich alt, aber wir sind sehr froh, dass er sich wieder berappelt hat. Es sieht gut aus.“ Dann muss Valle auch schon wieder los: Gassi gehen am Strand.

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