Krieg in der Ukraine: Bomben in der Nacht, Costello am Morgen

Putins Krieg gegen die Ukraine, der Politikwechsel in Deutschland und ein Song im Radio: Ein paar Gedanken zur Lage.

Ich weiß nicht, wie weit im Voraus mein Lieblingssender seine Playlisten bestückt, aber als heute früh „(What’s So Funny About) Peace, Love And Understanding“ im Radio lief, war die Antwort, die ich in den Kaffeebecher murmelte: Nichts, natürlich.

Und doch. „Die Welt ist nicht mehr dieselbe“: Es ist der Satz, der dieser Tage am häufigsten fällt, nicht zuletzt hat ihn Olaf Scholz im Bundestag gesagt. Und Annalena Baerbock lyrisch um ein „in der wir aufgewacht sind“ erweitert. Aufgewacht wähnen sich nun fast alle, die gestern noch glaubten, zu Friedfertigkeit, Liebe und Verständigung gebe es keine Alternative.

Es ist eine „wicked world“, wie Costello vor 43 Jahren zeitlos gültig sang (und Nick Lowe fünf Jahre zuvor geschrieben hatte). Damals ging es darum, sich nicht über die Werte der Gegenkultur lustig zu machen, die noch immer Bestand hätten. Heute ist die Welt noch böser, heute zwingt ihr ein entgrenzter Imperator einen Krieg auf, der uns in jeder Beziehung nahe geht und zugleich komplett surreal scheint. Damals, ein paar Wochen nachdem Costello von der wicked world und den troubled times und der Sehnsucht nach peace, love und understanding gesungen hatte, sammelten Vertreter der bundesrepublikanischen Gegenkultur „Waffen für El Salvador“; 4,7 Millionen Mark kamen zusammen. Ein Jahr später demonstrierten 300.000 Menschen in Bonn gegen die NATO-Nachrüstung.

Es ist also nicht so, dass die Gegenkultur grundsätzlich pazifistisch wäre und bloß Kerzen in die Fenster stellt. Sie hat sich bloß nie sonderlich für die Entwicklung demokratischer Gesellschaften oder Diktaturen in der ehemaligen Sowjetunion interessiert. So wie sie sich auch eher nur so mittel für die DDR interessiert hatte, als es sie noch gab. Lateinamerika war spannender. Und die Ukraine war uns, seien wir ehrlich, bis vor ein paar Tagen auch noch relativ egal. Die Bilder des Aufstands gegen den Diktator Janukowitsch und seine Oligarchen-Freunde auf dem Maidan in Kiew vor acht Jahren sind dem einen oder der anderen noch präsent gewesen, auch weil die jungen Rebellen aussahen wie junge Indie-Musikerinnen in Freiburg oder Frankfurt aussehen. Aber der Donbass?

Und doch. Am vergangenen Sonntag gingen mehr als 100.000 Menschen in Berlin auf die Straße, um gegen Putins Krieg zu demonstrieren, 250.000 beim umfunktionierten Rosenmontagsumzug in Köln. Sie taten es nicht, weil sie von konservativen Kommentatoren dazu aufgefordert wurden, die ihrer Freude darüber Ausdruck verliehen, dass „die Linken“ seit Jahrzehnten komplett falsch lagen mit ihrem Frieden-schaffen-ohne-Waffen und immer nur gegen „das Vernünftige“ demonstriert hätten, gegen die Stationierung amerikanischer Atomraketen beispielsweise. Sie taten es, weil der Angiffskrieg gegen ein Nachbarland mit einer frei gewählten und demokratisch legitimierten Regierung ein Akt staatlicher Barbarei ist, wie man ihn in Europa nicht mehr für möglich gehalten hatte (was, wie nun jeder zu sagen sich befleißigt, echt „naiv“ ist).

Selenskij ist der zivile Gegenentwurf zu dem russischen Diktator

Auf Facebook konnte man Videos von Demonstranten überall auf der Welt sehen, auch aus St. Petersburg (wo das Demonstrieren ein mutiger Akt ist). Wie überhaupt die sozialen Medien eine sehr direkte, ungefilterte Gegenöffentlichkeit herstellen, mit all der ihnen immanenten Problematik. Sie befördern auch das Bild von Wolodimir Selenskij, dem Helden von Kiew, der unrasiert in seinem olivfarbenen T-Shirt ein Beispiel gibt für den Kampf einer Zivilgesellschaft gegen Tyrannei und Terrorismus, dessen Antwort auf das Angebot, sich evakuieren zu lassen schon jetzt Kultstatus hat: „Ich brauche Munition und keine Mitfahrgelegenheit“. Dennoch wirkt der ukrainische Präsident nicht wie ein testosterongesteuerter Breitbeiner. Er ist der zivile Gegenentwurf zu dem russischen Diktator. Der spricht mäandernd, grimmig und leicht aufgedunsen in die Kamera, in sechs Metern Entfernung zu seinen Untergebenen oder Verhandlungspartnern, am riesenhaften Schreibtisch oder albernen Stehpult. Wicked world. Wie lächerlich das Gefasel über die angebliche Corona-Diktatur ist im Vergleich zu einer wirklichen Diktatur. Und das Gerede vom Verlust der Freiheit durch Impfausweisvorzeigen im Vergleich zu dem tatsächlichen Verlust der Freiheit.

Eine Zeitenwende, ein Epochenbruch also, kleiner haben wir es nicht. Deutsche Waffen für die Ukraine und Milliarden für die Aufrüstung. „Die Entscheidung ist richtig“, sagt Robert Habeck, „aber ob sie gut ist, das weiß noch niemand“.

„So where are the strong? And who are the trusted? And where is the harmony?” fragt Costello in seinem Lied, und dass er fast weinen möchte, denn „oh, what’s so funny about peace, love and understanding?”

Nichts.

HANNIBAL HANSCHKE Getty Images
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