Kunstvolles Verlieren

Wir alle sind ein M&M in einem Mixer voller Eiscreme“, sagt irgendwer trotzig an einer Stelle in „Motel Life“, „und keiner von uns will klein gehackt werden. Wir tun fast alles, um nicht in Stücke gehackt zu ‚werden.“ Die Flannigen-Brüder Frank und Jerry Lee, kleine, von Geburt an mit dem Rücken zur Wand stehende Verlierer.können ein Lied davon singen, was es heißt, gegen das Kleingehacktwerden anzuleben. Sie tun es mit wechselnden Aushilfsjobs, flüchtigen Amouren, Fast Food und einer Menge Bier. Und was dabei gleichbleibend exorbitant ist, das ist Quote ihrer Fehlschläge — kurz: Wir haben es mit zwei Pechvögeln dicksten Kalibers zu tun, Wesen, die auf der Standspur des Lebens gestrandet erfolglos vom großen Überholmanöver delirieren.

Von der naiven, scheinbar lächerlichen und – wie es aussieht – unbesiegbaren Hoffnung, es trotzdem immer neu mit dem Leben aufnehmen zu wollen, davon handelt der kleine, herzzerreißend-schöne Debütroman „Motel Life“ (Berhn Verlag, 17,90 Euro) des amerikanischen Geschichtenerzählers Willy Vlautin. Und Vlautin, hauptberuflich Sänger und Songschreiber der Folkrockband Richmond Fontaine, zeigt bereits auf diesen ersten, knapp 180 luftigen, in dunkler Schönheit erblühenden Seiten aus seiner Feder, dass in der Seele eines Dahergelaufenen mitunter mehr Seele steckt als in sämtlichen Büchern über die Seele. Denn wie es dieser Teufelskerl vermag, aus einer kleinen, schmutzigen und insgesamt doch ziemlich unglücklich verlaufenden Geschichte die Essenz eines ganzen Lebens zu destillieren, das ist famos.

Die einfache Erklärung: Vlautin beherrscht das, wovon viele Autoren nur träumen können — die Kunst der Reduktion; gepaart mit dem Wissen darum, dass man als Erzähler nie versuchen sollte, klüger als seine Figuren zu sein. Und so bewegen auch wir uns stets auf Augenhöhe mit seinen beiden Untergehern. Dabei lässt Vlautin uns wie zufällig über deren Schultern und in ihre Seelen blicken. Und jedes Bild und jeder noch so flüchtige Snapshot, den er uns gewährt, lässt uns tiefer, mitfühlender eintauchen in diese kleine traurig-schöne Ballade zweier Glückssucher, denen ständig das Pech an den Sohlen klebt.

Vlautin kann eine Geschichte so erzählen, wie er seine Songs schreibt: scheinbar locker aus der Hüfte geschossen – und dabei doch so kühn und haargenau kalkuliert wie der gezielte Griff eines Anatomen an das Herz des Patienten. Das macht Vlautin zu einem Bruder im Geiste des großen US-Filmemachers Hai Hartleider sich mit unterkühlten Meisterwerken wie „Simple Man“ oder „Flirt“ kurzerhand in den Olymp der zeitgenössischen Filmkunst katapultierte, oder des passionierten literarischen Schwarzsehers Denis Johnson, der immer neu mit seinen als Romane getarnten Bankrotterklärungen beweist, dass die Wahrheit über den Menschen immer noch eine darstellenswerte Sache ist, auch wenn sie erstunken und erlogen ist.

Doch worum geht es eigentlich in diesem Roman, der sämtliche Zutaten einer negativen Passionsgeschichte in sich trägt?

„Motel Life“ , 2006 illustriert von Nate Beaty in den USA erschienen, entrollt in ebenso kompakten wie tiefenscharfen Bildern die Geschichte der saufenden Flannigen-Brüder Frank und Jerry Lee, die sich — mit viel Bier und noch mehr Übermut — halbwegs gekonnt von einem Tag zum nächsten retten: Frank trauert seiner Verflossenen namens Amiejames nach, während Jerry Lee—seit einer schweren Beinverletzung— als Krüppel durch die Welt humpelt. Zwei ausgemachte Schnapsdrosseln voller Spleens und zu großer Träume, wie gemacht für das grandios zelebrierte Fiasko. Denn da, wo die beiden herkommen, aus dem amerikanischen Spielernest Reno, gilt nur der etwas, der den Jackpot zu knacken versteht. Und als Jerry Lee volltrunken in schneedurchwehter Nacht mit seinem Dodge-Fury einen Jungen überfährt, steht der Zeiger seiner Lebensuhr endgültig auf fünf vor Zwölf. „Fahren konnte ich noch“, erinnert der sich später, „und ich bin auf der Fifth Street, da flitzt plötzlich ein kleiner Junge auf dem Fahrrad mitten auf die Straße, und ich fahre voll rein. Scheiße. Um vier Uhr morgens, alles voller Schnee. Das war das Schrecklichste, was ich je gesehen habe.“

Was dann einsetzt, ist die leidenschaftliche Schilderung ihrer Flucht vor dem langen Arm des Gesetzes: mit ein paar Hundert Dollar in der Tasche und einigen Sixpacks sowie dem toten Jungen auf dem Rücksitz jagen sie über die Highways und fliehen in Richtung Montana. Doch weil Jerry Lee mit seinen Schuldgefühlen nicht klarkommt, lässt er Frank eines Morgens alleine zurück, fackelt kurz entschlossen den Dodge ab — und kehrt nach Reno zurück, um die Sache, so glaubt er jedenfalls, alleine und auf seine Weise zu Ende bringen zu müssen. Entschlossen verübt er einen Selbstmordversuch, doch auch als Selbstmörder ist Jerry Lee eine Pflaume. Statt in den Kopf, schießt er sich unglücklicherweise in den Beinstumpf- und landet im Krankenhaus. ,“Mhmm‘, sagte ich. .Hat versucht, sich den Beinstumpf auch noch abzuschießen.‘ ,Scheiße, harte Sache‘, sagte Earl. ,Ja, Scheiße‘, sagte ich.“

Wie es Vlautin dabei vermag, das zerrissene Innere seines unglückseligen Helden in Nahaufnahmen von melancholischer Schönheit zu bannen, das ist großes Erzählkino – und dass Jerry Lee am Ende auf der Strecke bleibt, ebenso traurig wie konsequent. Doch das Leben geht weiter, in Reno und anderswo — und das Hoffen aufbessere Tage auch: „Ich weiß noch, dass ich lange vordem alten Krankenhaus saß. Die Leute kamen und gingen. So läuft das eben. Dann lief ich durch die Gegend. Schließlich wartete ich einfach vor dem Baumarkt, wo Amie James arbeitete. Ich hoffe. Denn Hoffnung ist besser als nichts.“ In den USA ist bereits der zweite Vlautin-Roman, „Northline“, erschienen. Die Sache scheint zu laufen. Gut so, Willy!

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