Lagerfeuer calling

Mit dem Dokumentarfilm "The Future Is Unwritten über die Punk-Legende Joe Strummer zeigt Julien Temple den Moralisten als unentwegten Kämpfer, aber auch als heimlichen Romantiker.

Moralischer Rigorismus ist ein hartes Ruhekissen. Kratzt, sorgt für unruhigen Schlaf. Weil es im Wachzustand wieder nicht gelang, die Lottermoral der Welt ins Wanken zu bringen. Joe Strummer hatte nichts übrig für Leute, die bei Bedarf abschalten konnten, zufrieden mit sich und ihrem Leben, das sie doch nur mittels schnöder Kompromisse mühsam deichselten. Joe konnte darüber grübeln, erzürnen, verzweifeln. Aber er schwang sich nicht über die Angepassten auf, ließ sie keine Verachtung spüren. Nicht der Joe Strummer, den ich kannte. Zu kennen glaubte. Der war nobler Punkrocker, Philanthrop, Pub-Philosoph, humanistisch geprägt, idealistisch gepolt. Nicht ohne Macken und Kanten, aber stets aufrichtig, dem aufrechten Gang verpflichtet. „The thing about Strummer was“, wusste Billy Bragg, „he walked it like he talked it.“

Ähnlich äußerten sich Freunde und Weggefährten, als Joe Strummer am 22.Dezember 2002 im Alter von gerade 50 Jahren völlig unerwartet starb. Fiel einfach um. Ein angeborener Herzfehler wurde diagnostiziert, post mortem. Von dem Joe nichts gewusst hatte. Wäre leicht zu beheben gewesen, hieß es. Bloody hell, was für ein Hohn! Der Rebell mit dem großen Herzen erliegt einer Herzschwäche. Kaum ein Nachruf, der nicht auf diesen augenscheinlichen Widersinn abgehoben hätte, kaum einer, der nicht daran erinnert hätte, welche Punk-Delirien Joes defekte Pumpe bereits schadlos überstanden hatte. Von den zwei tapfer absolvierten Marathonläufen mal ganz abgesehen. Joe Strummer, das war ausgemachte Sache, war der Stoff, aus dem Helden geschnitzt werden. Die Sorte ohne Fehl und Tadel.

Eine Verklärung, aus der Julien Temples Dokumentarfilm „The Future Is Unwritten“ ein wenig die Luft lässt. Unwillentlich, wie er versichert. Sein Blickwinkel sei halt nicht der des Fans oder des Musikhistorikers, sondern der eines Freundes. Strummers Tod habe ihn sehr mitgenommen, die Arbeit am Film habe ihm bei der Bewältigung geholfen. Je tiefer er indes bohrte, je mehr er über die Person Joe Strummer herausfand, desto deutlicher sei ihm klargeworden, dass diese biografische Chronik nicht unbedingt geeignet sein würde, Wasser auf die Gebetsmühlen der globalen Strummer-Gemeinde zu schaufeln. Dabei trägt Temples Streifen weder ikonoklastische Züge, noch betreibt er Popgeschichtsklitterung. Der Regisseur hält sich überhaupt mit Urteilen zurück, überlässt das Erzählen Joes engsten Vertrauten. Die um ein Lagerfeuer herumsitzen, unten an der Themse, und Erinnerungen austauschen. Eine ingeniöse Idee, die an Strummers legendäres Feuer beim Glastonbury-Festival gemahnt, ein tribales Erweckungslodern, dem viele weitere folgten. Joe liebte das Gemeinsinn stiftende, Glieder wärmende Holzverbrennen in ländlicher Abgeschiedenheit. „Wo sonst“, fragte er rhetorisch, „ließe es sich so ungestört zuhören, bis spät in die Nacht?“ Eine inzwischen eher realitätsfremde Idyllik, doch hatte zu Strummers Lebzeiten die Wahnvorstellung, allzeit und überall verfügbar sein zu müssen, noch nicht epidemisch um sich gegriffen, will sagen: Noch gab es Refugien außerhalb der Klingeltonterrorzone.

Als ingeniös erwies sich Temples Gesprächsregie auch, weil im zwanglosen Zumbestengeben von Anekdoten und zuweilen burlesken Begebenheiten sich so manche Zunge besser lösen ließ, als es in einer frontalen Q&A-Konstellation möglich gewesen wäre. Statt indiskret ausgeleuchtet in einem Studio saßen Joes Kumpane und Kollegen, seine Jugendfreunde und Ex-Frauen im Kreis um ein prasselndes Feuer und spielten sich die Erinnerungsbälle zu.

Entsprechend freimütig und intim fallen sie aus, die Schilderungen sinnfälliger Szenen aus Joe Strummers wildbewegtem Leben. So manche längst verdrängte Verletzung reckt ihr hässliches Haupt, wird mit verlegenem Lachen vertrieben. Nichts Ehrenrühriges, Egoismen nur. Joe konnte brüsk sein, wenn er sich mit einer früheren Identität konfrontiert sah, die er abgestreift hatte wie eine zu eng gewordene Haut. Vom Busker und Squatter John Mellor, der Woody genannt werden wollte, zum leutseligen Pubrocker Joe Strummer, zum rigiden Clash City Rocker.

Nicht die Metamorphosen eines Mitläufers, kein lebensgefühliges Andersseinwollen. Strummers Verwandlungen waren radikal, unbedingt, humorlos. Das galt insbesondere für seine Häutung zum Punk. Tribalism! Totale Identifikation mit neuer Ästhetik und neuer Haltung. Man nannte sich nicht von ungefähr The Clash. Als ihn eine alte Freundin aus Tramp-Tagen mit Woody anspricht, lässt er sie abblitzen. Und akzeptiert sie erst wieder, nachdem auch sie sich ihrer alten Zotteligkeit entledigt und dem Stamm der Punks angeschlossen hatte. Die nötige innere Einstellung bringt ihr Joe bei.

Julien Temple, selbst in der Londoner Hausbesetzerszene heimisch, kannte Joe schon, als der noch den 101ers vorstand, einer lokalen Attraktion, deren Auftritte so fulminant waren wie ihre Platten erfolglos. Temple war dabei, als The Clash ihre ersten musikalischen Flugversuche unternahmen, halbflügge erst, die Instrumente malträtierend, wütend, voller Ungeduld. Man schrieb 1976, und die Sex Pistols sorgten schon für Furore. Ihm habe die zynische Medienmanipulation der Pistols mehr imponiert als die gewissenhaften, sozial motivierten Attacken von The Clash, räumt Temple ein, doch sprechen seine sensationellen Bilder aus der Frühzeit des Punk ihre eigene, andere Sprache. Temple ist sich der Historizität der gefilmten Ereignisse wohl bewusst, vermeidet im begleitenden Kommentar jedoch klug, darauf herumzureiten. Stattdessen schwenkt er periodisch zurück zum Lagerfeuer, überlässt es den Personen, die in Joes Leben eine Rolle spielten, Schlussfolgerungen zu ziehen. Und das tun sie, wehmütig oder reumütig, analytisch oder romantisierend, lachend oder Tränen zerdrückend.

Die Runde am Feuer fungiert im Film als dramaturgische Klammer, die den gezeigten Lebensphasen des unzeitig verstorbenen Dauerkämpfers einen würdigen, wissenden Rahmen verleiht. Darin integriert, dokumentiert der Filmemacher die multikulturelle Kindheit des Diplomatensohns, das verhasste Internat, die Rock’n’Roll-Initiation durch die Rolling Stones, die problematische Beziehung zum älteren Bruder, dessen traumatisch erlebten Tod. Nicht linear erzählt, aber doch einer groben Chronologie folgend, die Strummers Erkenntnis-Etappen entlang eines roten Fadens steter Sinnsuche ordnet, Stichwörter liefernd für die Gedenkfeier am Fluss.

Wo sich einige eher periphere Figuren über den Künstler Joe Strummer auslassen. Als Inspirator wird er gepriesen, als Seele der Punkbewegung. Jim Jarmusch, Johnny Depp, John Cusack, der unvermeidliche Bono. Der seine Band in der Tradition von The Clash wähnt. Erhellend dagegen die Einlassungen von Bernie Rhodes, der als Manager von The Clash geschasst und reinstalliert wurde. Gegen den erklärten Willen von Mick Jones, der ebenfalls ausführlich zu Wort kommt. Selbst Topper Headon, früh dem Heroin verfallen und lange Jahre in der Obhut der Eltern lebend, erklärt sich. Kohärent, einfühlsam, verständig. Nur Paul Simenon glänzt rätselhafterweise durch Abwesenheit.

Dafür wurde Joe Ely aus Texas eingeflogen, wie seinerzeit, als er den Punks als Support Act von The Clash einheizte und sie ganz beiläufig ein paar musikalische Wahrheiten lehrte, von denen sie noch gänzlich unbeleckt waren. Mit Ely hatte Strummer später das mythische Amerika bereist, keine drei Jahre nach dem Punk-Pamphlet „Im So Bored With The USA“. Was Joe Strummer bereits zwei Jahre nach dem kategorischen Clash-Imperativ „No Elvis, Beatles or the Rolling Stones in 1977!“ über denselben dachte, erfahren wir übrigens nicht aus dem Film, können es aber dem Pic-Sleeve von „London Calling“ entnehmen.

Er war ein immens liebenswerter, extrem widersprüchlicher Charakter, dieser Joe Strummer, der seinem trutzigen Lebensmotto „never give up“ treu blieb, kostete es, was es wollte. Unnachgiebig anderen gegenüber, streng mit sich selbst. Das Leben als Purgatorium, wie anstrengend ist das? „The Future Is Unwritten“ vermittelt eine Ahnung davon und ist schon deshalb sehenswert. Und eine aufregendere Live-Band als The Clash gab es nicht Ende der Siebziger. Auch hiervon legt der Film beredt Zeugnis ab. Don’t miss it.

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