Literatur als Live-Album

Wenn man Peter Kurzeck zuvor fast fünf Stunden lang zugehört hat, nämlich auf seinem neuen Hörbuch „Ein Sommer, der bleibt“, kommt er einem während des Interviews schon fast wie ein alter Bekannter vor. Seine entspannte, jovial-onkelhafte Eloquenz nimmt einem jegliche Befangenheit, und er legt auch gleich los, als hätte er wochenlang keinen Menschen mehr gesprochen. Erzählt von seiner früheren Trinkerei, seiner Antipathie gegen das Autofahren und seinem Aufenthalt in Calw als Hermann-Hesse-Stipendiat, der sich leider dem Ende zuneige.

Kurzeck ist ein genuiner Erzähler. Das bestätigt neben dem vielbändigen, immer mal wieder nicht ganz zu Unrecht mit Proust verglichenen Werk, das seit 1979 beim Stroemfeld-Verlag erscheint, nicht zuletzt dieses Hörbuch-Experiment, das der kleine, aber ambitionierte Verlag suppose publiziert hat.

Kurzeck improvisiert hier unbeschwert, aber konzentriert vom „Dorf seiner Kindheit“, Staufenberg bei Gießen Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre. Er erinnert sich an die „Ameisenhochzeiten“, das „Dengeln der Sensen“, den Duft der frisch gestopften Strohsäcke, auf denen er und die anderen Flüchtlinge aus Böhmen schlafen müssen, die großen Waschtage, an denen man die Frauen nicht ansprechen darf, weil man sowieso keine vernünftige Antwort bekommt —und immer wieder entfährt ihm dabei ein schwermütiger Seufzer:

„Das war sehr schön eigentlich.“ Denn es kommt nie wieder.

„Ich war vier oder fünf Tage in Köln am Literaturhaus, um dort zu lesen“, erläutert Peter Kurzeck jetzt, „und dann kam der Hörbuchverleger Klaus Sander und sagte: Wollen wir es nicht jetzt machen? Und ich hatte damit gar nicht gerechnet. Ich dachte, wir treffen uns einfach mal, aber dann haben wir das gleich aufgenommen in einer Wohnung von Freunden von ihm, die verreist waren. Wir haben dann drei Tage lang in Köln Aufnahmen gemacht, immer tagsüber ein paar Stunden, was insofern anstrengend war. als ich ja abends zu den Lesungen gehen musste.“ Und dann noch zwei weitere Tage in Frankfurt. „Im Großen und Ganzen ist die Reihenfolge so geblieben, wie wir es aufgenommen hatten, mit ein oder zwei Umstellungen vielleicht. Auf dem Weg zu unserem entscheidenden Treffen habe ich mir noch gedacht: Selbst wenn er sagt, es ist gut genug— wenn es mir nicht gut genug vorkommt, dann stimme ich einer Veröffentlichung nicht zu. Ich wusste. ich kann es, ich war mir nur nicht sicher, ob es mir in dem Moment gelungen war.“

War es aber durchaus. Mit einerseits heiterer, die kindliche Euphorie gewisssermaßen nacherlebender, andererseits aber auch leicht wehmütiger, nämlich immer wieder vom Verlust kündender Stimmkoloratur beschwört er diese längst vergangene Welt noch einmal herauf.

Trotzdem macht er seine nostalgische Erzählung von Anfang an durchlässig für die böse Realität. Staufenberg ist — wenn überhaupt – eine gebrochene Idylle. So werden die Kurzecks, die Mutter mit ihm und der Schwester (der Vater ist noch in Kriegsgefangenschaft) keineswegs mit offenen Armen empfangen, sondern wie alle Flüchtlinge scheel angesehen. Schon dem Kleinkind fällt die Geringschätzung auf, mit

der man die Umsiedler stratt und mit ihnen auch die Kinder im Dorf. Ein rigide-utilitaristischer, liebloser Prostantismus scheint das soziale Gefüge zu prä‘ gen und zusammenzuhalten. Es gibt kein Spielzeug, kaum Bücher, die Kinder müssen mithelfen im Stall und bei der Feldarbeit. Eine stehende Wendung im Dorf, mit der die Eltern sie rufen, lautet: „Du Missgeburt!“

Dieses Hörbuch ist voll von solchen Klein- und Kleinstbeobachtungen und demonstriert einmal mehr, dass die Sozialund Mcntalitätsgeschichte der Provinz nur in dieser Form adäquat zu beschreiben ist. Eben literarisch.

Wenn man „Ein Sommer, der bleibt“ mit seinem gedruckten Roman „Kein Frühling“ vergleicht, der ebenfalls auf die Staufenberger Kindheit zurückgreift und jetzt in einer maßgeblich erweiterten Fassung vorliegt, wenn man also die gekörnte, elliptische, manchmal ein bisschen kurzatmige Diktion der Schrift diesem ruhigen, entspannten, eingängigen Rede-Parlando gegenüberstellt, dann könnte man sich sogar fragen, ob nicht das Mündliche der eigentliche, der ideale Aggregatszustand der Prosa von Peter Kurzeck sei.

Er zögert. „Vielleicht schon. Beim Schreiben kommt man natürlich immer wieder auf ein Thema zurück. Ich arbeite jetzt an der Fortsetzung meines letzten Buches .Oktober und wer wir selbst sind‘, und ich kann jetzt natürlich ein Kapitel nehmen aus diesem unfertigen Manuskript und kann das völlig überarbeiten, weil ich zwei Jahre, nachdem ich es geschrieben habe, noch auf irgendein Detail gekommen bin. Das ist beim Erzählen nicht möglich. Das mündliche Erzählen ist schon eine Art Live-Auftritt. Es ist am Ende geglückt, oder doch zumindest so gut geworden, dass man dazu stehen kann. Oder eben nicht.“

Peter Kurzeck bezieht sich ausdrücklich auf die alten Biuesmen, die er in hessischen Army-Clubs gesehen hat: auf ihre live, aus dem Dialog mit dem Publikum hervorgehenden, als Überleitung zum nächsten Song extemporierten, improvisierten, zwischen Anekdoten, Mythen und allgemeinen Lebensbetrachtungen oszillierenden Suadas. „Sie sitzen da und trinken, haben einen Teil ihres Gepäcks schon auf der Tournee verloren, um den letzten Koffer, den sie noch haben, drei Riemen drum, damit der nicht auch noch aufplatzt, und so einen Postsack von der US Army, wo sie ihr übriges Zeug reinstopfen, bringen es aber trotzdem fertig, auszusehen wie ein Aristokrat aus dem Süden. Und auch etwas verloren. Man merkt ja, wenn einer beim Trinken dem Suff ausgeliefert ist. Und zugleich, wenn sie zu spielen anfangen, ist plötzlich Jetzt, die Gegenwart.“

Und genau diese Seinsvergessenheit versucht er auch in seiner Prosa herzustellen. „Wenn ein Mensch etwas erzählt, ist einfach Jetzt. Das ist eine andere Zeitrechnung.“

Peter Kurzeck rekapituliert an einer Stelle seine ganz frühen Lektüreeindrücke. Die damaligen Kinderbücher hätten sehr häufig mit einer Beschreibung des ersten Ferientages begonnen, bevor dann das Unvermeidliche passiert sei, das spannende Abenteuer. Nun sei zwar rein gar nichts gegen Spannung und Abenteuer einzuwenden, aber wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es auch einfach so weitergehen können mit der Beschreibung des ganz profanen ersten Ferientages. .Aber solche Bücher gab es nicht.“ Mit „Ein Sommer, der bleibt“ gibt es das jetzt, ein halbes Jahrhundert später.

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