Magnolia

Am Anfang wähnt man sich im falschen Film. Bevor sich mit epischpoetischer Grazie eine Magnolienblüte öffnet und den Blick frei gibt auf die Krisen und Sinnsuchen einer Auswahl von Menschen, hat Paul Thomas Anderson seinem 189 Minuten wuchernden Alltagsmosaik einen Exkurs über die Tücken des Zufalls vorangestellt. Drei absurd-komische Fallbeispiele, die wirken wie ein Zusammenschnitt von TV-Nachrichten, Stummfilm-Slapstick und Pannen-Doku. Das schönste berichtet über einen Jungen, der von einem Wohnhaus springt. Die Kamera gleitet übers Dach und erhascht noch dessen Füße in jenem Moment, als er sich kopfüber fallen lässt Drei Etagen tiefer zanken dessen Eltern. Die Frau zielt mit einer Schrotflinte auf ihren Mann. Als sie abdrückt, verfehlt der Schuss ihn zwar – trifft aber den Jungen, der exakt in dieser Sekunde am offenen Fenster dahinter vorbeifliegt Weich plumpst der tote Körper in eine breite Markise direkt darunter.

Dumm gelaufen. Gleiches könnte man auch über die Schicksale und Situationen der Leute sagen, die „Magnolia“ binnen eines Tages und einer Nacht im San Fernando Valley von Südkalifornien auf- und zusammenführt. Da ist der Patriarch und TV-Produzent Earl Partridge (Jason Robards), der sterbend im Bett seiner Villa liegt. Seine junge Frau Linda (Julianne Moore) hat ihn nur wegen seines Geldes geheiratet und ihm den Lebensabend versüßt Nun spürt sie, dass sie ihn tatsächlich liebt verwirrt von den aufkeimenden Gefühlen flüchtet sie zu Psychiatern und Ärzten und betäubt sich mit Medikamenten. Partridge dagegen will noch einmal seinen verlorenen Sohn sehen, und der gütige Krankenpfleger Phil (Philip Seymour Hoffman) setzt alles daran, dessen letzten Wunsch zu erfüllen. Doch Frank TJ. Mackey (Tom Cruise) hält gerade sein Seminar „Seduce and Destroy“, wo er zu der Musik von „Also sprach Zarathustra“ als viriler Motivator für viel Virtuoser Reigen von PAUL THOMAS ANDERSON über Zufälle und verpasste Chancen NEU IM KINO Leinwand

Geld verunsicherten Männern chauvinistische Kampf-Slogans einbimst wie „No Pussy have nine lives“; und hat bis zur Selbstverleugnung seit langem mit seinem Vater gebrochen.

Auch der Moderator Jimmy Gator (Philip Baker Hall) ist krank und hat nicht mehr lange zu leben. Als freundlicher Onkel fuhrt er seit Jahrzehnten durch die populäre, von Partridge produzierte Game-Show „What Do Kids Know?“. Diese Sendung hat Donnie Smith (William H. Macy) vor 30Jahren als Sieger für einen Moment berühmt gemacht und danach zu einem neurotischen, vereinsamten Verlierer, der gerade seinen Job in einem Elektroladen verloren hat und hoffnungslos in einen breitschultrigen Barkeeper verknallt ist Als Wunderkind im aktuellen Quiz-Finale gegen drei erwachsene Kandidaten gilt jetzt der introvertierte Stanley (Jeremy Blackman), in dessen großen, blauen Pupillen die Angst schimmert, seinen jähzornigen Vater enttäuschen zu können, der ein Versager ist und seinen Ehrgeiz auf den Jungen projiziert Minutenlang ohne Schnitt begleitet die Kamera die beiden nach ihrer Ankunft im Studio durch angespannte Betriebsamkeit und schafft so eine klaustrophobische Atmosphäre, die den desperaten, eingemauerten Gemütszustand aller Beteiligten symbolisiert. Auf Gator lastet eine Schuld, die seine Tochter Claudia (Melora Walters) zum koksenden Psychowrack werden ließ und sie ihm nicht verzeihen kann. Als der linkische Cop Jim Kurring (John C. Reilly) ihr Apartment aufsucht weil sich Nachbarn wegen zu lauter Musik beschwert haben, ringt er sich zu der Bitte um ein Rendezvous durch. Womöglich sagt sie zu, um den Bullen aus der Wohnung zu kriegen.Jedenfalls verliert Kurring kurz darauf seine Dienstpistole, ab er einen Verdächtigen verfolgt und beschossen wird. Bis spät in den Abend hinein suchen er und Kollegen im Gestrüpp vergeblich nach der Waffe.

Der Episodenfilm ist ein zweischneidiges Genre. Er kann als vollkommenes Kunstwerk seinen Regisseur adeln, wird sich dabei allerdings immer an Robert Altmans „Short Cuts“ messen lassen müssen. Ansonsten zeigt er gnadenlos die Unfähigkeit auf, eine stringente Geschichte erzählen zu können. Anderson hat mit „Boogie Nights“ als Sittengemälde der Siebziger im Umfeld der Porno-Industrie bereits einen recht beachtlichen Riemen inszeniert Jetzt nennt er sich P. T. Anderson – als wäre er längst ein Klassiker. Zumindest hat er eine Reputation als Schauspieler-Regisseur. Hall, Reilly, Hoffman und Walters haben schon in seinem Debüt „Hard Eight“ gespielt und neben Macy und Moore auch bei „Boogie Nights“. Cruise hat gar um einen Part gebeten, sich in die grandiose Ensembleleistung eingeordnet und einen Golden Globe erhalten dafür, wie sein schmieriger Zynismus bröckelt, als er am Sterbebett kauert und mit vorwurfsvoller Verzweiflung seinen sprechunfähigen Vater bei dessem letzten Atemzug anbrüllt: „Verlass mich nicht, du Arschloch.“

„Magnolia“ ist auf den Berliner Filmfestspielen mit dem Goldenen Bären prämiert worden, was bei dem mäßigen Wettbewerbs-Programm nicht schwer zu erreichen war. Dennoch ist es ein großer Film, weil er die Kleinigkeiten des Lebens würdigt, und die Tragik von Verfehlungen und Vergebung, Entfremdung und Einsamkeit, Sehnsucht, Schmerz und Sterben nie in die Nähe des Kitsches gerät Aber vor allem geht es hier um (zu) späte Reue. Alle haben sie eine geschundene Seele, nur führt die Erkenntnis nicht mehr zur Erlösung. Konflikte bleiben unausgesprochen oder unbereinigt, Gefühle werden verdrängt und verleugnet. Ist es nicht tatsächlich so? Doch das wird es auch den Zuschauern nicht einfach machen, sich mit den Figuren zu identifizieren. Nur Stanley bricht diesen Kreislauf, indem er den Fragen-Marathon beendet Mehr Liebe vom Vater bringt ihm das allerdings auch nicht ein. Jetzt, wo ich dich getroffen habe“, sagt Claudia im Restaurant zu Kurring: „Hättest du etwas dagegen, wenn du mich nie wieder sehen würdest?“ Und so greift Anderson zu einem kühnen Trick, um den Verblendeten eine kalte Dusche zu verpassen: It’s raining frogs! Hunderttausende hageln vom Himmel, eine bizarre Sintflut am Schnittpunkt aller Handlungsstränge und somit Schlüsselerlebnis für alle neun Protagonisten.

Wie komplex und subtil die Einzelschicksale miteinander verwoben sind, zeigt sich nicht nur in Verwandtschaften und Verstrickungen. Jede Figur spiegelt sich zudem in den anderen Charakteren wieder. Frank, Claudia und Stanley leiden unter dem Egoismus ihrer Väter. Stanley teilt ähnliche Erfahrungen mit Donnie, der auf seiner Suche nach Liebe wie Kurring scheitert Beide sind als softe Singles mögliche Seminarteilnehmer von Frank, der wie Claudia und Linda nicht mit Gefühlen umgehen kann. Während der barmherzige Phil als einziger echte Tränen vergisst Und dann singen alle „Wise Up“ von Aimee Mann, deren Songs den Film thematisch unterlegen. Eine Groteske, mit der „Magnolia“ kurz den Rhythmus verliert Das Leben ist ein Chanson.

Oder wie die Wettervorhersage, die hier als Stimmungsbarometer fungiert -und stets irrt.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates