Margarete, gib mir die Knete!

Von Müller zu Westernhagen: Wie ein Düsseldorfer Rock-Hering die Rolle seines Lebens fand – und sie dann gegen die Stadienherrschaft eintauschte. Von Joachim Hentschel

Die meisten schlimmen Wörter habe ich als Kind von Marius Müller-Westernhagen gelernt. Verpissen, abkochen, geil, Spesenficker, Beine breit machen, die treibt’s mit dem, der mit einer anderen, und die hat rote Haare, auch unten. Anfang der Achtziger war das, als seine Karriere als Rock-Hering (nach dem Scheitern der Schlagerkarriere) gerade losging und er im Plattenladen noch unter M wie Müller stand. Udo Jürgens und Mike Krüger benutzten solche Wörter nicht, selbst Udo Lindenberg war ein Witz dagegen, der machte Weltraum-Opern, sang mit einem kleinen Jungen „Wozu sind Kriege da?“ und war mehr Maskottchen als Rocker.

Ich weiß noch, wie sehr mich mit zehn Jahren das Foto auf der Hinterseite von Müller-Westernhagens (der Doppelname muss hier fürs Erste sein) „Stinker“-LP abstieß: Der Typ balancierte auf der Spülung einer verwahrlosten Toilette, um die Frau in der Kabine nebenan zu bespitzeln. Songtitel und Credits standen als Schmierereien an den Klotüren. Eine echte Grenz-überschreitung, ohne Ironie oder Mitlacheffekt. Zumal man ihm ja auch nicht entkommen konnte. In jeder zweiten „Plattenküche“- oder „Bananas“-Sendung mit Frank Zander war Müller-Westernhagen zu sehen, im ZDF-Hauptabendprogramm, natürlich mit den harmloseren Liedern wie „Dass du mich verlässt“ oder „Herr D“ (das immerhin den Refrain „Das Leben ergibt keinen Sinn“ enthielt, auch das eine Erkenntnis, die für mich als Kind neu und bedenkenswert erschien).

„Kriegt er Kloppe auf der Bühne?“ stand über dem doppelseitigen Artikel in der „Popcorn“. Es ging darum, dass ein Damenkegelclub gedroht hatte, Müller-Westernhagen beim Konzert in Essen von der Bühne zu ziehen und ihn für seinen spöttischen, vielleicht sogar Randy-Newman-schlauen Song „Dicke“ zu vertrimmen („Drum müssen Dicke auch Karriere machen/ Mit Kohle ist man auch als Dicker gefragt“). Ich brauchte die Platte, Ekel hin oder her. Und ich liebte sie.

Oft wird so getan, als wäre Müller-Westernhagen erst in den späteren Kurzhaar-Sonnenbrille-Jahren so richtig bedrohlich groß geworden. Aber gemessen an den Standards der Zeit war er schon 1981 ein Superstar. Grönemeyer und BAP kannte noch keiner. Damals war Müller-Westernhagen eine Woche lang mit drei Platten gleichzeitig in den Top 50 der deutschen Charts: „Stinker“ auf sechs, „Pfefferminz“ auf 24, „Sekt oder Selters“ auf 49, und das, obwohl man ihn praktisch nicht im Radio hörte.

Was anders war als heute: Er war damals ein Typ, ein Charakter, um den man sich so leicht eine lebendige Welt, eine Handlung herumdenken konnte. Röhrenjeans, Lederjacke, Puma-Turnschuhe, Hinten-lang-vorne-Pony-Haarschnitt, nervös, kurz angebunden. Manche hielten das für New Wave, es war natürlich Hühner-Hugo (der legendäre Düsseldorfer Absturzgrill) und Bahnhofskneipe, Proletenstolz und Schlawinertum. Man erzählt sich von dem München-Konzert, bei dem Müller-Westernhagen vor Schickeria und Mode-Punks auftreten sollte, die ihn ignorierten, woraufhin er dem Publikum erst mal eine Predigt hielt, dass das so nicht ginge. Hier stimmten wenigstens auf beiden Seiten die Instinkte: der Straßenköter-Darsteller auf der Bühne, der in seinen Songs gleich die Anleitung lieferte, wie man mit Leuten wie der Saalbevölkerung umspringen solle: „Sie war so eine von den Hanseatentöchtern … arisches Blauauge, leichte Segelbräune … Lady, was glaubst du, wer Du bist?/ Lady, mach, daß Du Dich verpisst!“

Müller-Westernhagen war schon mit 14 ein guter Schauspieler gewesen, motiviert vom früh gestorbenen Vater. Die erste TV-Quasi-Hauptrolle, dann Sänger in der hoffnungsfrohen Beatband Harakiri Whoom, in Hamburg Teammitglied bei der TV-Satire „Express“, Sänger der McCartney-Coverversion „Gebt Bayern zurück an die Bayern“. Die erste Platte hatte noch nachdenklich und schmalzig geklungen, mit Liedern an Mutter und die Jugendliebe. Mangelnder Erfolg motivierte nach drei Alben den Relaunch mit einer Rockband und Produzent Lothar Meid von Amon Düül. Schon damals hätte allen klar sein müssen, dass man den Ruhrpott-Hallodri mit Pfefferminz im Knopfloch unmöglich an dem Kriterium messen konnte, wie authentisch oder künstlich er in seiner eigenen Kunst erschien. Identisch mit sich selbst war er doch nie, auch wenn die Figur ein bisschen so roch.

Die Rolle ließ ihn ebenso gut aussehen wie er sie. Der Halbstarke und Freizeit-Pimp, manchmal Malocher, gelegentlich Lebenskünstler, der sich von irgendwem aushalten lässt. Ein kleiner Stadtmensch mit begrenztem Horizont, wie man ihn auf der Reeperbahn, in Düsseldorfer Spielotheken, am Hagener Bahnhofswürstchenstand erwarten würde. Bauernschlau, kein bereitwilliges Opfer, aber auch ohne jeden ernstzunehmenden bürgerlichen Aufstiegstrieb. Höchstens ab und zu semi-kriminell. Müller-Westernhagens frühe Charaktere schlichen mit Geheimwissen und beneidenswerter Vertrautheit durch ihre Welt, fanden immer den heißen Tipp für die Pferdewette, kannten die Nutten an der Hotelbar und hatten im Kopf, um wieviel Uhr die Ehegattinnen der Villenbesitzer allein und willig waren.

Sie hatten, oh Wunder, kein sonderlich aufgeklärtes Verhältnis zum anderen Geschlecht, sangen Zeilen wie „In unserm Schlafzimmer aus Schleiflack hab ich mal an Mord gedacht“, „Oh Margarete, gib mir die Knete“, „Oh Gisela (auf der zweiten Silbe betont, Gi-se-la), wenn ich dich seh‘, schlägt mein Herz schneller“, oder „Ich kann zwar nicht französisch reden/ Doch wenn ich auch nur Müller heiße, so bin ich doch am Leben“. In der „Tatort“-Folge „Grenzgänger“ von 1981 gibt es eine bezaubernde Szene, in der Götz George als Schimanski mit irren Armbewegungen durch eine Kneipe tanzt, während Müller-Westernhagens Stück „Sex“ läuft: „Sääääääx!“

Das Angezerrte in Müller-Westernhagens Stimme hatte damals einerseits etwas geschwollen Großkotziges, um die Respektfrage schnell zu klären, dazu aber auch eine Kurz-nach-dem-Stimmbruch-Aura, ein Krähen und Jaulen in die Welt hinein. Die Band mit den Ex-Lindenberg-Leuten und gestrandeten US-Musikern, mit Stehtisch-Blues und Heimwerker-Boogie, wollte zum Glück nicht allzu toll sein. War ja auch kein guter Job: „Peter spielt auch nicht mehr in unserer Band/ Er meint, dass er seine Chance mit Rock’n’Roll nur verpennt“, rückte der Sänger die Illusion wieder gerade, die mancher sich gemacht hatte. Chance? Die Welt des Tankstellen-Rock’n’Rollers hat etwas Unbewegliches, ist vom Fortschritt abgetrennt. Kein gutes Beispiel. Aber so ist es halt.

Am anrührendsten hat er dieses Gefühl der Desillusion, des von den Umständen erstickten Ehrgeizes in dem Stück „Gute Nacht, Hermann“ zu packen gekriegt, einer kurzen Ballade vom „Sekt oder Selters“-Album. Ein Mann, Industrieschlosser von Beruf, schläft im Sessel ein, das Rauschen des Fernsehers (zu Zeiten, in denen es in Deutschland kein Nachtprogramm gab) verwandelt sich in seinem Traum kurz zu Urlaub und Meeresbrandung, während der Blick des Betrachters über den Couchtisch streift, über Aschenbecher, das Foto der Söhne, einer anständig, einer missraten. Eine eigenartige Idylle des absoluten Stillstands. Bis die Frau kommt, „im Nachthemd aus Diolen“, und ihn ins Bett holt: „Und artig trottet er hinter ihr her, seinen Traum hat er längst vergessen/ Und morgen früh steht er dann wieder seinen Mann in irgend ’nem Werk in Essen“. „Gute Nacht, Hermann!“ schickt er ihm zärtlich hinterher.

Angeblich verkaufte Marius Müller-Westernhagen im weiteren Verlauf der 80er-Jahre auch von den weniger populären Platten um die 30.000 Stück, das hätte im Prinzip gereicht, um gemeinsam mit den Fans zu überwintern und sich – was ja immer gut klingt – von der Erwartungshaltung aller Unwissenden abzukoppeln. Aber Müller-Westernhagen war eben nicht Hermann, Hühner-Hugo oder Mister Gisela, nicht so unambitioniert und bewegungsfaul. 1987 wurde er von Goetz und Alexander Elbertzhagen in die Mitte genommen, dem ehrgeizigen Pop-Unternehmer-Duo. Stellte sich ganz neu auf, pegelte sich neu ein, bügelte und zupfte sich. Und wurde zu Westernhagen. Mindestens genau so echt oder falsch wie der dürre Jeans-Fisch. Aber eben die Nummer eins in der hundertprozentig wirklichen Welt, 1989 mit „Hallelujah“, das von Null auf die Top-Position der Charts sprang.

Von da an sah man ihn vor allem angeblitzt und mit Schlagschatten, mit Sonnenbrille und goldenen Platten, Bundesverdienstkreuz oder sonstigen Auszeichnungen, mit Polizeieskorte oder Feuerwerk, backstage beim Pudern oder beim Abschreiten leerer Stadien, in denen eben die größte deutsche Bühne aller Zeiten aufgebaut wurde. Er hatte Männer mit Schlapphüten in der Band, schwarze Backgroundsänger oder welche, die wie Volksmusiker aussahen. Der naheliegendste Vorwurf gegen einen Künstler, der sich auf eine ganz neue Ebene katapultiert hat, wird meistens auch mit der naheliegendsten Verteidigung beantwortet: Man gönne ihm wohl den Erfolg nicht. Man gehöre zu dem Teil der deutschen Öffentlichkeit, die ihre Künstler insgesamt lieber klein und liebenswert haben will. Man messe einheimische Stars ja an ganz anderen Kriterien als englische und amerikanische. Oder man sehe es halt nicht gern, dass einer erwachsen wird.

Nicht ausgeschlossen, dass viele der Anfeindungen gegen Armani-Westernhagen tatsächlich aus diesen Motiven heraus abgefeuert wurden. Und es mag auch sein, dass es in Deutschland auf ganz besonders unfaire Art schwierig ist, ein großer Star zu sein und zu bleiben, weil jede Geste der Selbstverherrlichung, jede Baumaßnahme am eigenen Denkmal so negativ auffällt.

Westernhagen hatte ja selbst erkannt, dass er mit seinen Stadiontour-Ambitionen in den direkten Vergleich mit Leuten wie U2 und Bruce Springsteen trat – entsprechend musste er auch ihre Gestik und Ausstattung nachahmen, musste Titelgeschichten, Heldensagen und Kinofilme über sich selbst in Auftrag geben, die ihm sonst keiner geliefert hätte. Nur, um dann wieder in Interviews zu kommentieren, dass ihn Ruhm und eigene Größe gar nicht interessieren würden. Interviews, die er dann auch wieder selbst redigierte und ausbesserte, um sicherzugehen, dass das am Ende auch wirklich drinstand. In der Tourdokumentation „Keine Zeit“ kann man das beobachten. Ein Teufelskreis des Unsympathischen. Da hatte es ja Brioni-Schröder leichter!

Das Spielerische, Glücksritterhafte, man möchte fast sagen: Kesse der frühen Platten verschwand derweil immer mehr aus Westernhagens Musik. Die schönen Geschichten, der treffende Ton, die überzeugenden Skizzen. Dafür stieg der Stimmungsliedfaktor, das Karnevaleske, Schlagerhafte. Und wenn man’s nicht besser wüsste, könnte man glauben: Über die Mitternachtskneipen und Kleinkriminellenbuden wusste Westernhagen eben doch ein bisschen mehr, da steckte etwas von ihm drin, davon hatte er ein Bild im Kopf. An seine neue Rolle als Mann in Schwarz mit Lennon-Sonnenbrille hat man sich zwar gewöhnt, aber wirklich ausfüllen kann er sie nicht. Das Staatstragende steht seiner Musik nur mittel. Viel zu oft wirken die Songs genau so, als würde sich einer seiner früheren Pfefferminz-Brüder plötzlich mal als Dichter versuchen: „Hey hey, es ist das Leben/ Hey hey, an dem wir kleben“, „Heute Nacht ist die Nacht/ Die Nacht, die uns zu Sündern macht“, „Gier ist der Tod der Kunst/ In Köln nennt man die Pussi Punz“. Nicht nur sein neues, von vielen (auch vom Rezensenten hier im Heft) speziell für die Musik gelobtes Album „Williamsburg“ ist voll von derart verunglückten Versen, die im Zusammenhang, aus dem sie hier gerissen sind, oft noch schlimmer klingen.

Wenn Westernhagen heute romantisch, schnoddrig oder lustig sein will, dann ist er es immer gleich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Dann ist er superromantisch, megaschnoddrig, hammerlustig. Und extraverkrampft. Nur neue Wörter lerne ich heute keine mehr von ihm. „Jetzt sitz ich hier, bin etabliert/ Und schreib auf teurem Papier/ Ein Lied über meine Vergangenheit/ Damit ich den Frust verlier“ – die letzte Strophe von „Mit 18“ wurde oft rückwirkend zitiert, wenn es um die Frage nach Westernhagens Schicksal ging. Zurück auf die Straße soll er nicht, bloß nicht. Aber es ist ja auch durchaus denkbar, dass die relativ frische Unabhängigkeit vom Apparat, von Platten- und Managementfirmen, sich mal in einer echten kreativen Überraschung manifestiert.

Am besten beraten wäre Marius Müller-Westernhagen übrigens, wenn er sich gerade beim Musikmachen wieder auf sein größtes Talent besinnen würde. Auf die Schauspielerei.

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