Max Richter: „Meine Musik soll keine Schlaftablette sein“

Der Komponist im großen ROLLING-STONE-Interview über die Ideen, die zu „Sleep Circle“ führten.

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Max Richter meldet sich per Video-Chat von seinem in der Natur gelegenen Anwesen in der Nähe von London. Darin findet sich auch das Studio Richter Mahr, wo der Komponist gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Yulia Mahr, seine Werke entwickelt, die zu den meistgehörten der neueren klassischen Musik gehören.

Mit „Sleep“ erregte Richter 2015 große Aufmerksamkeit. Über 8 Stunden Musik, die als Schlafbegleitung verstanden werden kann und bei Konzerten dazu führt, das sein Publikum freiwillig die Augen schließt. Nun hat der Musiker mit „Sleep Circle“ eine Variation herausgebracht, die völlig anders gehört werden sollte.

ROLLING STONE erzählte Richter, wie es zu dem Projekt kam, warum „Sleep“ eigentlich ein Protestalbum ist und wieso das Stück jederzeit „Ja“ zu seinen Hörern sagt.

Herr Richter, Sie sorgen für besseren Schlaf von Millionen von Menschen. Können Sie eigentlich selbst nachts gut schlafen?

(lacht) Ich schlafe immer gut, das kann ich mit Freude sagen. Ich weiß, dass ich in dieser Hinsicht sehr viel Glück habe. Aber im Ernst: Ich finde Schlaf unendlich faszinierend. Es ist ein Teil unseres Lebens, für den wir enorm viel Zeit aufwenden, über den wir aber eigentlich kaum etwas wissen.

Erinnern Sie sich an den ersten Moment, als Ihnen klar wurde, dass „Sleep“ nicht nur ein Stück, sondern ein Lebensprojekt sein würde?

Schon die Entstehung des Originals „Sleep“ war ein so enormes Unterfangen – allein das Schreiben, die Aufnahmen, die Produktion. In gewisser Weise gab es ja zwei parallele Veröffentlichungen, die Komplettfassung für eine ganze Nacht und dann diese Version, die eher wie eine Hörreise durch das Material war. Also war es von Beginn an eine ziemlich komplizierte Angelegenheit, und seitdem ist es irgendwie weiter gewachsen.

Wenn Sie auf die erste Aufführung von „Sleep“ zurückblicken, was hat Sie mehr überrascht, die Reaktion des Publikums oder Ihre eigene Erfahrung?

Es war in vielerlei Hinsicht überraschend. Wir hatten diese drei Shows im Kraftwerk in Berlin. So etwas hatten wir noch nie zuvor gemacht. Als Musiker waren wir schon unsicher, wie das Ganze laufen würde. Und ich glaube, eines der Dinge, die sofort interessant waren, war, dass es im Gegensatz zu einem normalen Konzert, bei dem man versucht, das Material sehr direkt zu vermitteln und die Geschichte so eindringlich wie möglich zu erzählen, wirklich nicht die übliche Art war, die Musik zu spielen. Tatsächlich haben wir einfach etwas begleitet, das in dem Raum geschah. Das Publikum, das waren im Grunde 500 Fremde, die beschlossen hatten, einander zu vertrauen, was etwas Großartiges ist. Die Musik schafft eigentlich nur eine Umgebung, in der das geschehen kann.

Gab es einen bestimmten Traum oder eine persönliche Erfahrung, die „Sleep“ ausgelöst hat?

In gewisser Weise ja. Die ursprüngliche Idee entstand aus einigen Gesprächen, die Yulia (Mahr), meine Partnerin, und ich führten. Das war zu einer Zeit, als ich Konzerte auf der anderen Seite der Weltkugel spielte. Yulia war zu Hause, wir hatten kleine Kinder, und sie hörte manchmal zu irgendeiner verrückten Uhrzeit in der Nacht einen Livestream, und sie erlebte diese Art von sehr emotionaler Wirkung der Musik in diesem Zustand zwischen Wachsein und Schlaf, und wir sprachen viel darüber und dachten über die Idee nach, ein Stück zu schaffen, das genau diesen Raum einnimmt. Es gab noch einige andere Ideen einer Art immersiven Kunstform, die mir damals kamen, also eine Art alternative Realität, die mich interessierte und die der sehr vermittelten digitalen Realität entgegensteht. So kamen ein paar Ideen zusammen. Aber natürlich war diese Erfahrung von Yulia dafür grundlegend.

Und was unterscheidet „Sleep Circle“ heute von „Sleep“. Ist es eine Art Kommentar oder Fortsetzung?

Es ist eine Aufnahme einer Version der Musik, die wir für ein normales Konzert gemacht haben, also ein Konzert für einen Konzertsaal, und wir haben das ein paar Mal in den Staaten und auch in Europa gespielt. Es ging um Elemente, die man, anstatt zu schlafen, vielleicht lieber hören möchte. Also habe ich eine neue bewusste Klangarchitektur geschaffen, eine weitere Version dieses Materials, und wir haben das bei Konzerten gespielt. Ich finde, es ist immer noch sehr wie „Sleep“, aber es ist nicht ganz so einschläfernd wie das Gesamtwerk, es ist buchstäblich eine Live-Aufführung hier im Studio, die vor einem Jahr oder mehr entstand.

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Das Wort „Circle” suggeriert eine kreisförmige Bewegung. Geht es um menschliche Rhythmen oder um etwas Kosmisches?

Nun, das Stück selbst besteht aus Variationsformen, also gibt es wirklich diese beiden Stränge, wissen Sie, da ist diese pulsierende, langsame Klaviermusik und dann gibt es das Gesangsmaterial, und jedes davon durchläuft eine Reihe von Variationen, und sie wechseln sich während des gesamten Stücks ab, also ist dieses Bild einer kreisförmigen Struktur für mich sehr grundlegend für das gesamte Projekt. Deshalb dachte ich, es wäre ein schöner Titel für dieses Material.

Haben Sie einen besonderen Favoriten auf „Sleep“, auf den Sie besonders stolz sind und der für Sie besonders hervorsticht?

(Lacht) Bei einer Live-Performance liebe ich auf jeden Fall das Ende (Dream O). Denn bis wir dort angelangt sind, spiele ich bereits seit acht Stunden Klavier. Nein, ich denke, das Besondere an „Sleep“ ist, dass man als Zuschauer und als Interpret wirklich eine große Reise unternimmt, und diese Reise ist jedes Mal anders, je nachdem, wie das Publikum sie gerade empfindet, je nachdem, wie man es selbst als Musiker empfindet, spielt das Ensemble anders, daher kann ich wirklich nicht sagen, dass es einen Lieblingsmoment darin gibt. Jede Aufführung ist einzigartig.

„’Sleep‘ ist ja nicht eine medizinisch anwendbare Technologie, sondern ein Kunstwerk“

Es gibt so viele Titel für die Stücke, einige davon mit sehr originellen Namen. Wie sind Sie hier vorgegangen? 

Ich bin ein großer Leser, ich liebe Literatur. Für mich sind Musik und Geschichtenerzählen sehr eng miteinander verbunden. Ich habe immer Bücher um mich herum und Texte, die mir durch den Kopf gehen, also habe ich es sehr genossen, diese Dinge mit einigen Teilen von „Sleep“ zu verbinden. Außerdem sagt die Wissenschaft, dass wir Erinnerungen und Emotionen verarbeiten, während wir schlafen, und ich habe versucht, das in meiner Musik widerzuspiegeln.

Gab es einen neuen Ansatz für „Sleep Circle“. Es geht ja um Traumschlaf…

Nicht speziell, „Sleep“ ist ja keine medizinisch anwendbare Technologie, sondern ein Kunstwerk. Es gibt Verbindungen zwischen Poesie und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, also auch darüber, was die Musik bewirkt, aber letztendlich ist es ein Musikstück, es soll keine Schlaftablette sein. Ich habe die Neurowissenschaft so weit wie möglich in meine Arbeit einfließen lassen, während ich gleichzeitig Musik geschrieben habe. So bekam das Projekt eine gewisse Balance.

Es überrascht natürlich nicht, dass viele die Musik von „Sleep“ zum Einschlafen nutzen. „Sleep Circle “ wirkt konzentrierter. Würden Sie sagen, dass es eher für das wache Hören gedacht ist?

Ja, es ist eine Art neue Hörreise durch das Material.

Sind Sie jemals zu Ihrer eigenen Musik eingeschlafen?

Ich kann das nicht, wenn ich sie höre, denn dann arbeitet mein Geist.

Sind Sie schon einmal zu anderer Musik weggeschlummert?

Ich glaube nicht. Als Komponist bin ich, wenn ich Musik höre, die meiste Zeit in einer Art analytischem Modus. Ich denke darüber nach, wie die Musik gemacht ist oder welche Harmonien, welche Akkorde verwendet werden oder wie sie strukturiert ist. Also bin ich irgendwie ziemlich beschäftigt, wenn Musik spielt.

Cover-Artwork von „Sleep Circle“
Cover-Artwork von „Sleep Circle“

Wie würden Sie eine Live-Performance von „Sleep“ beschreiben, ist es eher ein Konzert oder so etwas wie eine Zeremonie?

Es ist ein bisschen von beidem. Ich betrachte es als eine Umgebung oder eine Art Landschaft, in der Nacht ist. Es ist eine Art Ort, an dem diese Musik lebt. Vielleicht könnte man es mit einer Galerieinstallation vergleichen und es überschneidet sich nur teilweise mit einer traditionellen Musikaufführung. Die Musik wird nicht auf einem Level gespielt, das an ein Schlaflied erinnert. Sie wird auf einem Konzertniveau gespielt, was die Leute manchmal überrascht. Aber ja, ich sehe „Sleep“ als eine musikalische Untersuchung darüber, wie Musik und Geist über die Nacht hinweg miteinander in Verbindung treten können.

Gibt es kulturelle Unterschiede, wie das Publikum in verschiedenen Städten auf „Sleep“ reagiert?

Ja, auf jeden Fall. Man bekommt einen kleinen Einblick in die Gesellschaft. Berlin ist natürlich eine sehr nächtliche Stadt. Als wir im Kraftwerk gespielt haben, war es im  Tresor darunter ziemlich wild. Niemand hat geschlafen. Und in London zum Beispiel ging es sehr höflich zu. Die Leute gingen auf und ab und stellten sicher, dass die Betten den richtigen Abstand zueinander hatten. In Madrid gab es nicht einmal Betten. Es gab nur eine riesige Yogamatte, auf der sich Hunderte von Menschen einfach hingelegt haben. In China haben wir an der Chinesischen Mauer gespielt, und die Leute sind mit ihren Kindern gekommen. Es waren viele Familien, und die Familien haben ihre Betten zusammengeschoben und alle haben zusammen geschlafen, das war sehr schön. Also ja, es gab viele verschiedene Reaktionen.

Nachdenklich: Max Richter
Nachdenklich: Max Richter

Ist ein Musiker in Ihrem Ensemble jemals während des Spielens eingeschlafen?

Ich glaube, es ist schon einmal fast passiert. Gegen Ende gibt es ein paar Stellen, an denen auch ich wirklich die Augen offen halten muss, um sicherzustellen, dass alle noch dabei sind. Es ist körperlich sehr anstrengend, vor allem, weil die Musik für die Streicher aus langen, leisen Tönen besteht, was für Streicher das Schwierigste ist. Das ist etwas, was den Musikern normalerweise wirklich Angst macht, und sie müssen das jedes Mal, wenn wir spielen, mehrere Stunden lang durchhalten. Das ist also wirklich eine große Sache und sehr, sehr anstrengend. Aber bisher ist noch niemand eingeschlafen.

Und wie verändert sich Ihre eigene körperliche Wahrnehmung, wenn Sie acht Stunden lang spielen?

Ich verbringe ein paar Tage vor einem Auftritt damit, mich an die Zeitumstellung zu gewöhnen, damit es für mich im Grunde genommen Morgen ist, wenn ich auf die Bühne gehe. Das funktioniert ziemlich gut. Aber es ist eine große Sache, und man muss sich vorbereiten, es ist vor allem physisch eine große Herausforderung. Mein Klavierpart umfasst mehr als 200 Seiten, das ist eine Menge.

„Sleep“ ist ein riesiger Streaming-Erfolg. Ist die Bedeutung von Playlists und der Trend zum funktionalen Hören eine Bedrohung oder eine Chance?

Das ist nicht leicht zu beantworten.. Streaming selbst hat aus der Perspektive des Hörers enorme Freiheiten gebracht, ohne dass man dafür etwas tun muss. Als ich ein Kind war und mich für eine Platte interessierte, musste ich mich entscheiden, ob ich das Risiko eingehen wollte, sie zu kaufen oder nicht. Sollte ich mein Taschengeld für diese Platte ausgeben, bei der ich mir gar nicht sicher war, ob sie mir gefällt? Das ist heute natürlich kein Problem mehr, man streamt einfach drauf los. Hörer bekommen eine außergewöhnliche Fülle an verfügbarer Musik geboten, das ist wirklich ziemlich spektakulär. Aus der Perspektive eines Künstlers sind die ökonomischen Bedingungen des Streamings aber sehr problematisch, insbesondere jetzt, wo eine Flut von KI-generiertem Material und sogenannte Fake-Künstler auftauchen und es verschiedene Möglichkeiten gibt, Playlists zu verwässern. Ja, ich würde sagen, dass es als Medium für Musiker immer schwieriger wird.

Es gibt eine spezielle „Sleep“-App. Benutzen Sie sie selbst?

Als ich die App vorgestellt bekommen habe, fand ich sie wirklich wunderbar. Und mir gefällt, dass sie die nützliche Dimension des Stücks in den Vordergrund stellt. Die Idee, dass Musik generell eine nützliche Dimension hat, ist eigentlich eine Provokation. Man kann sich vorstellen, was Adorno davon halten würde. Aber ich mag die Idee, dass ein Musikstück auf eine bestimmte Art gebraucht wird. Natürlich nicht jedes Musikstück, aber „Sleep“ hat definitiv einen Nutzen. Die Tradition funktionaler Musik reicht auch ziemlich weit zurück, ob es nun Satie ist oder Stücke aus anderen nicht-westlichen Kulturen, in der Musik eine andere gesellschaftliche Bedeutung hat. Natürlich gab es auch eine Hochphase der Gebrauchsmusik in der klassischen Musik, es ist also keine neue Idee, aber nach allem, was die musikalische Moderne brachte, ist es eben doch eine ungewöhnliche Sache. Aber ich mag diese Idee. Ich finde sie interessant. Und mit der App kann man für sich selbst eine Struktur von „Sleep“ mit einer bestimmten Dauer erschaffen, die gerade zu einem passt. Das finde ich großartig.

Ich habe „Sleep“ während einer schwierigen Phase in meinem Leben oft gehört. Die schwebende Musik gab mir das Gefühl, dass ich meinen Schmerz loslassen konnte, dass er einfach da sein und ich ihn akzeptieren konnte. Wie etwas, das im Raum schwebt. Viele Hörer sagen, dass „Sleep“ ihnen durch Krisen geholfen hat. Hat Sie dieser therapeutische Aspekt überrascht?

In gewisser Weise ja. In gewisser Weise auch nicht. Denn als ich mich ursprünglich daran machte, das Stück zu komponieren, war eines der Dinge, die ich für wirklich wichtig hielt, dass es ein Gefühl existenzieller Sicherheit vermittelt. Denn wenn man schläft und aufwacht, möchte man wissen, wo man ist und was los ist. Man möchte sich nicht unsicher fühlen. Deshalb habe ich das Gefühl, dass „Sleep“ eine Erwartung erfüllt. Es sagt immer ‚Ja‘ zu einem. Das liegt auch an der Art und Weise, wie die Harmonie aufgebaut sind. Hörer können sich sagen: ‚Ja, ich weiß, was jetzt passiert‘, und dann macht es genau das, was man erwartet. Es funktioniert also sehr stark über Selbstbestätigung, und das war mir sehr wichtig. Die Welt ist außer Kontrolle, es ist verrückt, wir wissen nicht, was demnächst passieren wird, aber in diesem Stück ist alles an seinem Platz, also ist es eine alternative Realität, eine Art Wunscherfüllung, wenn man so will.

Können Sie sich mit Zuhörern identifizieren, die Ihre Musik fast wie Medizin nutzen, oder widerspricht diese Funktionalität eigentlich dem, was Kunst sein sollte?

Ich glaube nicht, dass es hier ein Entweder/Oder gibt. Aus der Sicht der Moderne ist es nicht dasselbe. Aber ich akzeptiere das nicht wirklich. Musikstücke können mich aufbauen, wenn ich mich niedergeschlagen fühle oder was auch immer. Beethoven hat das vielleicht nicht so beabsichtigt, aber es funktioniert dennoch, also ist das für mich in Ordnung. Ich denke, diese beiden Eigenschaften können in einem Werk koexistieren.

Konnten sie nach all den Jahren dem Geheimnis des Schlafes etwas näher kommen oder ist es eher größer geworden?

Natürlich beginnt die Neurowissenschaft jetzt, all das zu entschlüsseln. Aber was passiert da auf persönlicher Ebene? Wohin gehen wir? Das ist interessant. Wir sind da und wir sind nicht da. Die Zeit vergeht und gleichzeitig vergeht sie nicht. Ich liebe dieses Rätsel. Ich liebe dieses Geheimnis.

Und interessieren Sie sich persönlich für solche philosophischen Dimensionen hinter dem Thema Schlaf?

Ja, absolut, für mich ist kreatives Arbeiten genau das: Untersuchungen vornehmen, Fragen stellen, Was-wäre-wenn-Szenarien entwickeln. Ich denke, das ist Teil davon, wenn man ein nachdenklicher Mensch ist.

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Wir leben in einer Zeit, in der Schlaf oft als Unterbrechung der Produktivität angesehen wird. Ist „Sleep“ für Sie immer noch ein politisches Statement gegen Beschleunigung?

Diese neoliberale Vorstellung von einem Menschen als einer Art Produktions- und Konsumeinheit finde ich erniedrigend. Und ich denke, Menschen sind viel mehr als das. In gewisser Weise ist „Sleep“ tatsächlich eine Art Versuch, das zu ändern.  Insofern habe ich „Sleep“ damals schon als Protestalbum entwickelt, als es herauskam. Ich denke, es ist sehr wichtig, diese grundlegenden menschlichen Zustände für uns zurückzugewinnen. Denn alles andere wird automatisiert. Wir sollten wenigstens für einige Stunden aus diesem Hochgeschwindigkeitszug aussteigen können.

Es gibt eine tiefe Melancholie in Ihrer Arbeit, aber niemals Verzweiflung. Ist „Sleep“ auch ein Werk der Hoffnung?

Fast das gesamte Stück ist an die akustische Erfahrung eines ungeborenen Kindes angelehnt, also hat man dieses sehr reduzierte, dunkle Spektrum, und dann, in den letzten etwa 45 Minuten, öffnet sich das Spektrum, sodass man eine Art Sonnenaufgang in der Musik erlebt. Ich empfinde es also sehr als eine Art Bestätigung von etwas.

Haben Sie nun mit „Sleep Circle“ etwas in Ihrer Musik entdeckt, das Sie zuvor noch nicht gehört hatten?

Nein, das nicht. Aber wenn man mit einer älteren Komposition arbeitet, stößt man auf künstlerische Entscheidungen, die man früher getroffen hat. Die Jahre vergehen und man denkt: Oh, das ist interessant. Warum habe ich mich damals dafür entschieden und gegen anderes? Das ist wahnsinnig interessant. Es ist fast, als begegnete man so einer anderen Person.

Mögen Sie die Remixe, die es von „Sleep“ gibt?

Es ist wirklich immer spannend, wenn Leute deine Arbeit neu produzieren, weil es dir etwas darüber verrät, was sie darin hören. Jeder bringt dann ja auch etwas von sich selbst ein. So entsteht etwas ganz anderes, und ich genieße diesen Prozess wirklich. Es ist, als würde man eine ganze Reihe kleiner Geschenke bekommen, und man weiß nie so recht, was sich darin befindet.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Richter.

„Sleep Circle“ ist am 04. September erschienen. Am 05. und 06. September spielt Max Richter in London mit Orchester zwei besondere „Sleep“-Konzerte zum 10-jährigen Jubiläum der extralangen Komposition. 

Deutsche Grammophon
Rory Van Millingen Promo Deutsche Grammophon

Marc Vetter schreibt freiberuflich unter anderem für ROLLING STONE. Weitere Artikel und das Autorenprofil gibt es hier.